Zürich 1916/17
Er ist jung, noch nicht volljährig. Er hat ein schmales Gesicht, dunkles, glattes Haar und unter den dichten Augenbrauen blicken die großen Augen ein wenig melancholisch. Bekleidet ist er mit einem schwarzen Dreiteiler und darauf abgestimmter Krawatte. Seiner ersten Zimmerwirtin in der Bolleystraße 7 stellt er sich als Frédéric Glauser vor, nach Zürich gekommen, um an der nahe gelegenen Universität Chemie zu studieren.
Es ist der Januar des Jahres 1916 und die neutrale Schweiz beherbergt zu dieser Zeit sowohl Pazifisten, Anarchisten und Revolutionäre (Lenin) wie auch die internationale künstlerische Avantgarde: »Angeekelt von den Schlächtereien des Weltkrieges 1914, gaben wir uns in Zürich den schönen Künsten hin. Während in der Ferne der Donner der Geschütze grollte, sangen, malten, lebten, dichteten wir aus Leibeskräften. Wir suchten eine elementare Kunst, die den Menschen vom Wahnsinn der Zeit heilen, und eine neue Ordnung, die das Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle herstellen sollte«, schreibt der deutsch-französische Maler, Bildhauer und Lyriker Hans Arp, Mitbegründer der Dada-Bewegung.
Die Erklärung des Wortes Dada ist umstritten. Die einen nennen ein französisches Wörterbuch als Quelle –dada, frz. für »Steckenpferd« –, andere ordnen es der Kleinkindersprache zu, und auch ein in diesen Jahren beliebtes Schweizer Haarwaschmittel namens DADA soll die internationale Künstlergruppe zur Namensgebung angeregt haben.
Der soeben erst in Zürich eingetroffene Frédéric Glauser hört später noch eine andere Version: »... es ist außerdem noch eine doppelte Bejahung, ›ja, ja‹ heißt es, in den slawischen Sprachen wenigstens, und ich glaube, auch in der rumänischen.«
Frédéric Glauser schreibt sich an der Uni ein und belegt die Fächer »Organische Experimentalchemie« und »Chemisch-analytisches Praktikum für Chemiker«. Doch allzu ernst nimmt er es mit dem Studium nicht. Gemeinsam mit einem Freund stellt er die erste Ausgabe einer Literaturzeitschrift – »Le Gong« – zusammen, in der natürlich auch Texte der beiden Herausgeber erscheinen sollen; von den französischen Symbolisten beeinflusste Prosaarbeiten und Nachdichtungen. Das nimmt ihn voll in Anspruch, und er ahnt nicht im Entferntesten, dass man nur wenig später »Erkundigungen« über sein Treiben einholen wird. Da ist dann protokolliert, er mache »auffallend viele ›Freitage‹, während welcher Zeit er sich nachts in leichtsinniger Gesellschaft herumtrieb und tagsüber dann in seinem Zimmer seine müden Glieder ausruhen ließ. Wegen dieser Unregelmäßigkeit seiner Lebensweise, welche oft den Nebenbewohnern ruhestörend war, wurde ihm das Logis gekündigt, und er verzog sich nach der Möhrlistr. 17 zu Hardmeier.«
Diese polizeilich durchgeführten Ermittlungen hat der Vater veranlasst, der als gebürtiger Schweizer im fernen Mannheim an der Handelshochschule unterrichtet. Er misstraut dem Sohn seit jeher, hat ihn schon als Schüler der Lüge und des Diebstahls bezichtigt und glaubt, dass er nun als Student total verlottert. Aktuell kommt hinzu, dass Frédéric ihm per Brief erklärt hat: »Wenn die Gesellschaft, an deren Rand ich wohl leben werde, so ist, wie sie mir bis heute erscheint, und wenn Du wirklich glaubst, eine ihrer Stützen zu sein, dann bedanke ich mich. Ich ziehe es vor, weiterhin in freier Luft zu atmen, wie es mir entspricht, in einer Luft, die nicht vergiftet ist, und wenn Du mich für einen Querulanten, einen Bohemien, einen heruntergekommenen Menschen hältst, so mögen das Bezeichnungen sein, die für Dein Ohr bloß beleidigend klingen; ich dagegen rühme mich ihrer ...«
Er geht nun gar nicht mehr zur Uni: »Ganze Tage blieb er im Bett, ohne krankheitshalber daran gebunden gewesen zu sein«, ist in dem Polizeiprotokoll zu lesen, »nachts ging er dann wieder seiner Gesellschaft nach, hielt sich nach seinen daselbst selber gemachten Angaben in den hiesigen Caféhäusern auf, machte Kleintheaterbesuche und Autofahrten, durch welche Veranstaltungen er nach gemachten Wahrnehmungen sehr viel Geld durchtat.«
Das »Café Odeon« (Limmatquai 2), das (nicht mehr existierende) »Café des Banques« (am Beginn des Rennweges) und das Café und heutige Restaurant »Terrasse« (Limmatquai 3) sind die Lokalitäten, in denen Glauser jetzt Abend für Abend anzutreffen ist. Er liest und schreibt ein wenig, trinkt »große Quantitäten« Alkohol, raucht Kette und macht Bekanntschaften – »Damenbekanntschaften«. Noch erhält er vom Vater monatlich 170 Franken, doch damit kommt er bei dieser Lebensführung sch