TEIL 1
IM MÄRZ
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Wenn ich jetzt sterbe, dann kann ich damit leben. Was mir früher die Sicht auf den Tod verstellte, habe ich längst umgangen oder aus dem Weg geräumt. Mein innerer Frieden wäre ein Hort der Langeweile, wenn ich nicht gelernt hätte, Langeweile ab und zu als Zufriedenheit wahrzunehmen. Das ist in meinem Alter ein Privileg. Demzufolge kann ich nicht behaupten, dass ich sterben möchte, auch wenn ich mit mir selbst im Reinen und für die letzte Reise gerüstet bin. Doch bevor es so weit ist, würde ich gerne wieder die Kraft haben, auf die Leiter zu steigen, um aus dem obersten Bücherregal Wisława Szymborskas GedichtbandHundert Freuden2 herauszuholen und es auf Seite 102 aufzuschlagen.
Das Nichts hat sich umgenichtet, auch für mich. Es drehte sich tatsächlich auf die andere Seite …
Früher berührte mich das Wort »Umnichtung«, und ich versuchte, mir die Umnichtung des Nichts bildlich vorzustellen. Heute habe ich das Gefühl, als ob ich selbst schon auf einer der vielen anderen Seiten wäre, die wir in jungen und mittleren Jahren immer mit anderen Menschen in Verbindung bringen.
Wo bin ich nur hingeraten – Kopf und Fuß in Planeten, unbegreiflich, dass ich einmal nicht da sein könnte …
Ich kenne das Gedicht auswendig. Manchmal stelle ich ein paar Worte um oder lasse eine Zeile aus. Gute Lyrik ist immer anpassungsfähig. Was ich vermisse, ist die Sinnlichkeit jener Augenblicke, in denen ich mit dem Zeigefinger der rechten Hand über die Seite streiche, umblättere, ein Lesezeichen suche, das Buch schließe, weglege, wieder aufschlage, wie beiläufig von Zeile zu Zeile springe und wie immer an dem SatzGestirnt aufs Geratewohl! hängen bleibe. Dafür lohnt es sich, wieder gesund zu werden.
Der Arzt meinte, dass es mindestens drei Wochen dauern wird, bis ich aus dem Haus gehen darf. Als ich von ihm wissen wollte, wann ich wieder auf die Leiter steigen kann, um an die Bücher der beiden oberen Regale zu gelangen, runzelte er die Stirn und sagte: »Ach, wissen Sie, gnädige Frau, in Ihrem Alter …« Der Rest des Satzes blieb in seinem grauen Bart hängen. Ich fragte noch einmal nach, aber er gab mir keine Antwort.
Vor meinem Unfall blieb Szymborska oft wochenlang unberührt, so lange, bis ich auf die Idee kam, die Bücher abzustauben und die Spinnweben zu entfernen. Dannfiel mein Blick wieder auf den erwähnten Gedichtband, und wenn ich in der entsprechenden melancholischen Stimmung war, genoss ich jene Augenblicke, die ich heute so schmerzlich vermisse. Seit dem Unfall starre ich unentwegt nach oben und zähle die Tage, bis Karla von ihrer Kur zurückkommt. Dann steigt Szymborska in Begleitung von Jan SkácelsWundklee und Joseph BrodskysHügeln hinunter zu mir und auf einen Ehrenplatz am rechten Rand des Sofas, griff- und blätterbereit, Wegbegleiter in der Not, Freunde auch in besseren Zeiten.
Mein Sprachhunger ist stärker als das Verlangen, mir etwas Substanzielleres als Gedichte zuzuführen. Am Tag vor ihrer Abreise hat Karla den Kühlschrank und die Küchenreg