: Luigi Pirandello
: Angst vor dem Glück Erzählungen
: Manesse
: 9783641163235
: 1
: CHF 13.40
:
: Erzählende Literatur
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wiederentdeckung eines großen europäischen Erzählers
Ein Reisender findet sich unversehens in einer fremden Welt wieder - und in den Armen einer schönen Unbekannten; ein Familienvater hat von heute auf morgen seine ganze Sippe gegen sich, wird zum ungeliebten Patron ... Pirandello ist ein unerreichter Meister der subtilen Irritation, des tragikomischen Umkippens vom vermeintlich Realen ins Surreale. In seiner Prosakunst erweist sich die Unbeständigkeit dessen, was man Normalität nennt. Faszinierend zu sehen, wie der Autor aus kleinen Irritationen beiläufig die großen Dramen des modernen Menschen gestaltet.

Luigi Pirandello (1867-1936), geboren in der Nähe von Agrigent auf Sizilien, studierte Jura und Literatur an den Universitäten Palermo und Rom, arbeitete als Journalist und unterrichtete italienische Literatur. 1925 gründete er in Rom das 'Teatro d'Arte', mit dem er jahrelang ganz Europa und Amerika bereiste. Sein Drama 'Sei personaggi in cerca d'autore' ('Sechs Personen suchen einen Autor', 1921) machte ihn weltberühmt. 1934 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.

ANGST VOR DEM GLÜCK

Bevor Fabio Feroni, nicht mehr von der einstigen Kraft der Vernunft geleitet, sich entschloss, eine Frau zu nehmen, hatte er, während die anderen auf einem Spaziergang oder in den Cafés Erholung von der täglichen Mühsal suchten, als der Einzelgänger, der er damals war, lange Jahre hindurch sein Vergnügen auf der kleinen Terrasse einer alten Junggesellenwohnung gefunden, wo es neben vielen Blumentöpfen auch Fliegen und Spinnen und Ameisen und andere Insekten in Hülle und Fülle gab, für deren Dasein er sich mit Hingabe und Neugier interessierte.

Besonderen Spaß machte es ihm, den sinnlosen Anstrengungen einer alten Schildkröte zuzusehen, die sich seit Jahr und Tag stur und hartnäckig mühte, die erste der drei Stufen emporzuklettern, über die man von jener Terrasse ins Speisezimmer gelangte.

«Wer weiß», hatte Feroni öfter gedacht, «wer weiß, welche Wonnen sie dort zu finden hofft, wenn ihr Starrsinn nach so vielen Jahren noch nicht erlahmt ist!»

Wenn es ihr mit großer Mühe gelungen war, die Senkrechte zu überwinden, wenn sie schon die krummen Beinchen auf den Rand der Stufe legte und verzweifelt scharrte, um sich nach oben zu ziehen, verlor sie mit einem Male das Gleichgewicht und fiel rücklings auf ihren rauen Panzer zurück.

Feroni wusste natürlich, dass sie, wenn sie auch die erste, dann die zweite und endlich die dritte Stufe überwunden und das Speisezimmer in seinem ganzen Umkreis erforscht hätte, doch wieder auf den Terrassenboden würde zurückkehren wollen; gleichwohl hatte er sie, um sie für die vergebliche Anstrengung vieler Jahre zu belohnen, mehr als einmal genommen und behutsam auf die erste Stufe gesetzt.

Aber er hatte zu seiner großen Verwunderung beobachtet, dass die Schildkröte, aus Angst oder Misstrauen, sich niemals die unerwartete Hilfe zunutze gemacht hatte und, Kopf und Füße unter ihr Schuppendach ziehend, eine geraume Weile unbeweglich wie ein Stein liegen geblieben war, bis sie endlich, langsam kehrtmachend, sich wieder dem Rand der Stufe näherte, indem sie unzweifelhaft zu verstehen gab, dass sie wieder hinunter wollte.

Und so hatte er sie wieder hinuntergesetzt; doch siehe, bald darauf erneuerte sie den ewigen Versuch, aus eigener Kraft jene erste Stufe emporzuklettern.

«Was für ein dummes Vieh!», hatte Feroni das erste Mal ausgerufen. Aber dann war er nach einigem Nachdenken gewahr geworden, dass er dummes Vieh zu einem Tier gesagt hatte, so wie man dummes Vieh zu einem Menschen sagt.

Tatsächlich hatte er dummes Vieh zu ihr gesagt, nicht weil sie in so vielen Jahren der Versuche noch nicht eingesehen hatte, dass jene Stufe zu hoch war und sie notwendigerweise, sich vertikal an sie anklammernd, an einem gewissen Punkt das Gleichgewicht verlieren und auf den Rücken fallen würde; sondern weil sie, wenn er ihr helfen wollte, seine Hilfe ausschlug.

Was folgt aber aus dieser Überlegung? Dass, wenn man in diesem Sinn dummes Vieh zu einem Menschen sagt, man den Tieren eine schwere Beleidigung zufügt, weil man mit Dummheit verwechselt, was Redlichkeit oder instinktive Klugheit i