»Großmutter, sieh nur!«
Der Junge deutete aufgeregt auf das Fohlen und strahlte dabei übers ganze Gesicht. Seltsam, dachte sie, immer öfter waren es Momente wie diese, die Erinnerungen wachriefen. Er nannte sie Großmutter, und sie sah sich als blutjunge Braut oder als Mutter von vier Kindern. Oder als Herrin der Burg. Nun war sie auch noch die Großmutter, die dabei zusah, wie ihr Enkelsohn sehnsüchtig einem Fohlen nachblickte, das der Pferdeknecht mit einem Schlag auf die Kruppe in Richtung Weide gelassen hatte. Das Tier trabte ein paar Schritte und wirkte auf seinen dünnen Läufen noch etwas steif und ungelenkig. Erste Schritte – und sie war in diesem Frühjahr 38 Jahre alt geworden.
Sie dachte an ihre morgendliche Begegnung mit Hagen, den sie bereits ihr halbes Leben lang kannte. Wieder einmal hatte sie festgestellt, dass der Ritter ein Mann war, den sie außerordentlich schätzte. Weil er sich zu benehmen wusste, wie es der Anstand verlangte, wie man es eben von einem Ritter erwartete und es in diesen Zeiten kaum noch erlebte. Hagen vom Wald ließ sie in seiner Gegenwart spüren, dass sie eine Frau war und nicht nur die Witwe des seligen Grafen von Greifenberg oder die Herrin der Burg. Eine Frau aus Fleisch und Blut, der man Aufmerksamkeit schenkte, der man schmeichelte, Komplimente machte. Gerade jetzt, nachdem wieder einmal ein Krieg zu Ende gegangen war und das Leben wieder besser wurde, durfte sie da nicht auch etwas Zeit für sich und ein paar Träume haben?
»Großmutter, wann werde ich ihn reiten können?«
»Bald, mein Liebling, bald ...«, antwortete sie.
Seine Wangen glühten in der Vorfreude, und er beobachtete erneut aufmerksam, wie das Fohlen auf dem frischen Wiesengrund hin und her trabte. Ob es ihr noch einmal gegeben war, neu anzufangen? Sie schloss für einen Moment die Augen. Ja, damals, als an einem warmen Sonntag im Mai alles begann ...
***
Der Gottesdienst war gerade zu Ende gegangen und sie, Eleonore vom Stein, jung, hübsch anzuschauen und neugierig auf das Leben, trat aus der Kapelle hinaus in das warme Sonnenlicht. Sie blieb neben dem Eingang stehen, denn sie hatte ihn bereits erkannt. Obwohl vor der Kirche, inmitten der Edlen und Ritter, deren Knechte und Pagen, ein geschäftiges Durcheinander herrschte, stand er unter den Bäumen bei den Pferden. Allein, niemand sonst nahm Notiz von ihm. So jung war er nicht mehr, fand sie, wenn auch längst nicht alt, etwa wie der Leiner, der Verwalter in ihrem Elternhaus, oder gar der Abt des Klosters, beides steinalte Männer in ihren Augen. Schlank von Gestalt, fast hager, sein Haar dunkel und glatt, an den Schläfen ausrasiert. Diese ein wenig altmodische Haartracht trug kaum ein Mann mehr, doch zu ihm passte sie irgendwie. Besonders gefiel ihr sein schmales, gut geschnittenes Gesicht. Er trägt sein Schwert nicht am Gürtel, dachte sie, sondern am Sattel, wo auch sein Schild hing. Schwarz, mit dem blutroten Greifen darauf. Wolfram von und zu Greifenberg, ein einfacher Ritter aus dem Wengertal, eine knappe Tagesreise entfernt. Viel mehr wusste sie nicht über ihn. Nur dass er hier bei seinem Oheim zu Gast war. Offenbar merkte er, dass sie ihn betrachtete, denn er hob den Kopf und lächelte ihr zu. Noch etwas, was ihr gefiel. Sein Lächeln.
Verlegen wandte sie den Blick ab. Ein Reitknecht trat zu ihr und führte ihren Zelter. Der Knecht hob beide Hände, um ihr in den Sattel zu helfen, und sie musste insgeheim darüber lachen, wie umständlich er das anstellte. Das rührte daher, dass es nicht üblich war, dies einem einfachen Mann aus dem Volk zu überlassen. Aber ihr Vater war mit dem Gefolge bereits auf und davon, um rasch der Schwüle dieses Sonntags im Schatten der nahen Schenke zu entgehen. Sie war mit Absicht zurückgeblieben, denn sie wollte auf den Berg, allein, so wie die letzten Sonntage auch. In die kleine Hütte, ihren Lieblingsplatz, den niemand sonst kannte.
Als sie im Sattel saß, ihr Kleid geordnet und die Zügel zurechtgelegt, blickte sie sich noch einmal um. Der Graf war verschwunden wie die beiden Sonntage zuvor. Sie seufzte. Also würde sie ihn erst nächste Woche wiedersehen, wie immer in der Kirche – wo sie ihn während der Messe verstohlen in seiner Bank kniend betrachten konnte. Dabei wünschte sie sich so sehr, dass er sie ansprach! Einmal nur, dachte sie, während das Pferd munter durch den Wald trabte. Sie musste ihm ja nicht gestehen, dass sie seit ihrer allerersten Begegnung ständig an ihn denken musste. Ein paar Worte mit ihm würden ihr schon genügen. Für den Anfang wenigstens ... Genau, und sollte er nächsten Sonntag wieder kein einziges Wort sprechen, werde ich es tun. Obwohl sich das nicht schickte. Sie schüttelte unwillig den Kopf. Warum eigentlich? Es schickt sich nicht! Aber was hieß das schon? Den Kopf energisch gehoben, schnalzte sie mit der Zunge, und der Zelter ging ein wenig schneller. Ne