Vorwort der Herausgeber
Immer sind es die Schicksale einzelner Menschen, die die faszinierendsten Geschichten erzählen, Geschichten, die sich in Büchern oft wie erfunden anhören. Wie diese zum Beispiel, die sich vor ein paar Jahren ereignete. Sie handelt von einem Mann, der zu einem der größten Stars auf Youtube avancierte, zu einer Art Popstar, der mit seinem Tanz Millionen von Usern begeisterte und verstörte, und das im Alter von90 Jahren. Adolek Kohn war nämlich nach Auschwitz, Theresienstadt und zu anderen ehemaligen Konzentrationslagern gefahren, um dort vor den Toren zu Gloria Gaynours weltberühmten Dancefloorhit ›I will survive‹ zu tanzen, zusammen mit seiner Familie, mit seiner Tochter und drei Enkelkindern. Zuerst unbeholfen, fast täppisch, dann sich zu fröhlicher Lebenslust steigernd, sieht man den alten Herrn im Video dort vor dem Tor mit der Aufschrift ›Arbeit macht frei‹ tanzen oder den Kopf zu den Diskorhythmen aus einem der ausgestellten Güterwaggons stecken. Ein Tabubruch, natürlich, eine aufwühlende Provokation. Aber Adolek Kohn durfte das. Er ist selbst einer der Überlebenden, wurde als junger Mann mit seiner Mutter nach Auschwitz deportiert, wo diese an der Rampe selektiert und in die Gaskammer geschickt wurde, während er selbst Glück hatte und im Arbeitslager überlebte. Oder ging auch er damit zu weit?
Die erhitzte Diskussion wurde in den User-Kommentaren des Videos, das seine Tochter, die Künstlerin Jane Korman, als Video Art Work initiiert hatte, zigtausendfach mit großen Emotionen geführt. Der Tanz des alten Mannes und seiner Familie beschäftigte die jüdischen Gremien und die Feuilletons, in Israel, Amerika, Deutschland. Was die einen als Geschmacklosigkeit gegenüber den Opfern empfanden, nannte der (sonst nicht um scharfe Worte verlegene) Berliner Publizist Henryk M. Broder »eines der größten Kunstwerke zur Geschichte des Holocaust«. Adolek Kohn selbst war völlig überrumpelt von der medialen Wirkung seines Auftritts. Er, der nach der Befreiung der Lager zu Fuß von Auschwitz nach Lodz zurückgegangen war und auf diesem Marsch seine Frau kennenlernte, die er drei Wochen später heiratete, war sein ganzes Leben lang ein begeisterter Tänzer.1949 siedelte er mit seiner Frau nach Melbourne um, wo er ein kleines Geschäft eröffnete und eine Familie gründete. Bis heute, mittlerweile93, lebt er dort mit seiner Frau. Zu allen Gelegenheiten wurden bei ihm zu Hause Maskenbälle veranstaltet, wurde ausgiebig getanzt, ein immer neuer Ausdruck der Freude, am Leben zu sein. In einem Interview für das deutsche Fernsehmagazin ›titel thesen temperamente‹ erklärte er das Tanzen in Auschwitz wie folgt: »Wenn mir damals im Lager jemand gesagt hätte, dass ich sechzig Jahre später hierherkommen würde, um mit meinen Enkeln hier zu tanzen – ich hätte ihm gesagt, er gehört in eine Irrenanstalt. Jetzt schrieb mir jemand in einem Brief, dass ich den Krieg gegen Hitler gewonnen hätte. Wir tanzen, weil wir eine neue Generation hervorgebracht haben.«
Adolek Kohns Enkel leben in Israel und in denUSA. Die26-jährige Yasmin zum Beispiel sagte im Gespräch: »Mir ging es darum, diese Reise mit meinem Großvater zu machen. Wir waren noch nie zusammen in Auschwitz. Dabei redet er über nichts anderes als den Krieg.« Für ihre Generation, die dritte Generation, ist der Holocaust in eine weite, abstrakte Ferne gerückt. Bald wird man darüber nur noch aus Bildern, Dokumenten und gefilmten Interviews erfahren, nicht mehr von den Zeitzeugen selbst. Dadurch dass der Holocaust in die Ferne rückt, hat sich freilich auch das Verhältnis der Menschen untereinander verändert. In den zwei, drei Jahrzehnten, in denen diese dritte Generation erwachsen wurde, hat sich nicht nur auf politischer Eb