: Ossip Mandelstam
: Ralph Dutli
: Bahnhofskonzert Das Ossip-Mandelstam-Lesebuch
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104033082
: Fischer Klassik Plus
: 1
: CHF 10.00
:
: Anthologien
: German
: 400
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Zum 125.Geburtstag von Ossip Mandelstam am 15. Januar 2016 Lange Zeit verschloss das »Jahrhundert der Wölfe« den Zugang zu Ossip Mandelstam. Sein Werk, ein Meilenstein der Weltliteratur, blieb in Russland bis in die 80er Jahre verboten. Für den deutschsprachigen Leser machte es Ralph Dutli mit seiner zehnbändigen Ausgabe im Ammann Verlag auf mustergültige Weise zugänglich. Mit viel gelobten Übersetzungen, präzisen und ausführlichen Kommentaren und glänzenden Nachworten erschloss er uns einen bis dahin Unbekannten. In diesem Band zieht Ralph Dutli eine Summe seiner Arbeit: Entstanden ist ein lebendiges Porträt Ossip Mandelstams aus Gedichten, Geschichten, Essays und Erinnerungen: der Gesang des »modernen Orpheus« (Joseph Brodsky). Eine Einladung zum Staunen. »Ossip ist ein Schrank voller Überraschungen.« Anna Achmatowa

Ossip Mandelstam, am 15. Januar 1891 in Warschau in einer jüdischen Familie geboren, studierte in Petersburg, Paris und Heidelberg. Seine Gedichtbände ?Der Stein? (1913) und ?Tristia? (1922), autobiographische Prosa ?Das Rauschen der Zeit? (1925) und ?Die ägyptische Briefmarke? (1928), sowie seine Essays ?Über Poesie? (1928), sind Meilensteine der russischen Dichtung des 20. Jahrhunderts. Ab 1929 politischer Verfolgung ausgesetzt, konnte sein Werk erst Jahrzehnte nach seinem Tod erscheinen. Mandelstam ist eines der prominenten Opfer von Stalins Regime der Terrorjahre. Aufgrund eines satirischen Epigramms auf Stalin im Mai 1934 verhaftet und verbannt, wurde er 1938 erneut verhaftet und zu Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. Er starb am 27. Dezember 1938 in einem Lager bei Wladiwostok. Seine Gedichte wurden von seiner Frau, Nadeschda Mandelstam, auswendig gelernt, versteckt und von Helfern in die USA geschmuggelt. Das Gesamtwerk, auf Deutsch 1985 bis 2000 im Ammann Verlag erschienen, ist im S. Fischer Verlag erhältlich.

DER BÜCHERSCHRANK


Wie ein einziger Krümel Moschus ein ganzes Haus mit seinem Duft erfüllt, so überflutet der kleinste Einfluss des Judaismus ein ganzes Leben. Oh, wie ist er stark, dieser Geruch! Ich musste ja merken, dass es in jüdischen Häusern anders roch als in den arischen. Und nicht nur die Küchen rochen anders, sondern auch die Menschen, die Gegenstände, die Kleider. Noch heute erinnere ich mich, wie der süßliche jüdische Geruch im Holzhaus meines Großvaters und meiner Großmutter an der Kljutschewaja-Straße im deutschen Riga mich einhüllte. Schon der Arbeitsraum meines Vaters bei uns zu Hause hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem granitenen Paradies meiner schönen Spaziergänge, schon er führte mich in eine mir fremde Welt, und das Kunterbunt seiner Einrichtung hat sich meinem Geist als unauflösliche Verbindung eingeprägt. Da war vor allem der handgefertigte eichene Lehnstuhl mit einer Balalaika und einem Fausthandschuh darauf und der Inschrift »Eile mit Weile« auf dem kleinen Bogen der Rückenlehne – ein Tribut an den pseudorussischen Stil unter Alexander dem Dritten. Dann der türkische Diwan, mit Hauptbüchern vollgepackt, deren Blätter aus Zigarettenpapier von einer winzigen gotischen Handschrift mit Geschäftsbriefen in deutscher Sprache beschrieben waren. Anfangs glaubte ich, die Arbeit meines Vaters bestehe darin, seine Briefe auf das Zigarettenpapier zu drucken, wenn er die Kurbel der Kopiermaschine drehte. Noch heute scheint mir der Geruch von Joch und Arbeitsmühe ein alles durchdringender Geruch von gegerbtem Leder zu sein, und die tatzenförmigen Glacélederstücke, die auf dem Fußboden lagen, und die fingerhaft lebendigen Auswüchse des flaumweichen Wildleders – all dies schwimmt, zusammen mit dem bürgerlichen Schreibtisch und seinem marmornen Tischkalender, in dichtem Tabakdunst und dem Rauchgeruch des Leders. Und inmitten der spröden Einrichtung dieses Arbeitsraumes stand ein kleiner Bücherschrank mit Glastür und einem grünen Taftvorhang. Von dieser Bücheraufbewahrung möchte ich nun erzählen. Der Bücherschrank der frühen Kindheit ist ein Begleiter des Menschen für sein ganzes Leben. Die Anordnung seiner Fächer, die Auswahl der Bücher, die Farbe der Buchrücken gilt ihm als die Farbe, Höhe und Anordnung der Weltliteratur selbst. Ja, jene Bücher, die nicht im ersten Bücherschrank gestanden haben, werden es nie schaffen, ins Weltgebäude einzudringen, das die Weltliteratur bedeutet. Ob man will oder nicht, ist jedes Buch im ersten Bücherschrank klassisch, und auch nicht einen einzigen Buchrücken könnte man daraus entfernen.

Diese seltsame kleine Bibliothek hatte sich im Laufe der Jahrzehnte wie geologische Schichtungen nicht zufällig so abgelagert. Das väterliche und das mütterliche Element in ihr hatten sich nicht vermischt, sondern existierten getrennt voneinander, und der kleine Schrank war ein Längsschnitt durch die Geschichte der geistigen Bemühungen eines ganzen Geschlechts und des mit ihm vereinigten fremden Blutes.

Das unterste Fach ist in meiner Erinnerung stets das chaotische: Die Bücher standen nicht Rücken neben Rücken, sondern lagen da wie Ruinen. Rötlich braune Sammlungen der Fünf Bücher Mose mit zerrissenen Einbänden, eine Geschichte der Juden, in der schwerfälligen und zaghaften Sprache eines russisch schreibenden Talmudisten. Es war das in den Staub gestürzte judäische Chaos. Auch meine althebräische Kinderfibel fiel sehr bald dorthin, da ich ohnehin kein Hebräisch lernen mochte. In einem Anfall heimatverbundener Reue stellten meine Eltern für mich einen richtigen jüdischen Hauslehrer ein. Da kam er dann aus seinem Händlerviertel und gab mir Unterricht, ohne seine Mütze abzunehmen, was mich verlegen machte. Sein Russisch war fehlerlos, doch klang es falsch. Meine hebräische Kinderfibel zeigte auf allen Bildern – je nachdem mit einer Katze, mit einem Buch, einem Eimer oder einer Gießkanne – ein und denselben Jungen, der eine Schirmmütze trug und ein sehr trauriges Erwachsenengesicht hatte. In diesem Jungen erkannte ich mich nicht wieder und lehnte mich desh