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Obwohl es inzwischen schon auf einundzwanzig Uhr zuging, herrschte reger Betrieb: Die letzten Berufspendler, Nachtschwärmer und Fahrgäste der Spätzüge drängten sich in der Haupthalle des Bahnhofs, dessen hoch aufragende Kuppel die ohnehin beachtliche Geräuschkulisse um ein hallendes Echo ergänzte und zurückwarf. Einige ältere Herrschaften, die mit ihren Gehhilfen nur langsam vorankamen, bildeten Inseln im schnell fließenden Menschenstrom, ebenso wie eine Mutter mit ihren beiden kleinen Kindern, die sich mit viel zu schweren Koffern abmühten. Arme Schlucker durchwühlten die Abfalleimer nach Pfandflaschen, von grimmig schauenden Wachleuten streng beobachtet. Und mittendrin stand Paul auf der Suche nach den Schließfächern.
Das dauerte seine Zeit, denn der Architekt schien den Ehrgeiz gehabt zu haben, die Staufächer möglichst gut in dem weitläufigen Gebäudekomplex zu verstecken. Ein Blick auf eine Tafel mit Richtungspfeilen und Piktogrammen half schließlich weiter, sodass Paul endlich in einem Raum voller Schrankwände mit mattgrauen Türen stand. Hinter einer dieser Türen vermutete er das Geheimnis, zu dem ihn der Schlüssel führen sollte. Er las noch einmal die aufgeprägte Nummer und verglich sie mit den Zahlen auf den Fächern vor ihm. Zwei Reihen weiter wurde er fündig.
Das Schließfach war verriegelt, was durch ein rotes Lämpchen signalisiert wurde. Sachte ließ Paul den Schlüssel in den Schlitz gleiten. Er passte. Paul drehte ihn um und – bingo! Das Licht sprang auf grün um, die Bolzen des Schließmechanismus schnappten zurück. Mit einem metallischen Klack sprang die Tür auf.
Wie gebannt starrte Paul ins dunkle Innere des Fachs. Zwar hatte er mit nichts Bestimmten gerechnet, war nun aber doch etwas enttäuscht. Zum Vorschein kam nur ein schmaler, mit schwarzem Kunstleder bespannter Aktenkoffer. Die Ecken waren abgestoßen, der silberne Griff abgenutzt und matt. Paul nahm den Koffer heraus und unterzog ihn einer ersten oberflächlichen Untersuchung. Dann winkelte er ein Bein an, legte seinen Fund darauf ab und wollte ihn öffnen. Doch daraus wurde nichts, denn die Schnappverschlüsse waren mit dreistelligen Zahlencodes gesichert.
Pauls Neugierde wuchs, denn nun fragte er sich natürlich, was der unscheinbare Koffer enthalten könnte. Er hob ihn an, um das Gewicht zu schätzen: mittelschwer. Dann hielt er ihn auf Ohrhöhe und schüttelte ihn. Nichts Auffälliges war zu hören, weder das Klappern loser Gegenstände noch das Rascheln von Papier.
Aufs Geratewohl probierte Paul einige Nummernkombinationen aus, um die Verriegelung doch noch zu überwinden. Vergebens. Er überlegte, was er sonst noch versuchen könnte. Doch ihm fiel nichts ein. Am besten war es wohl, wenn er den Koffer erst einmal mit nach Hause nahm.
Gerade als er sich zum Gehen wandte, bemerkte er einen Mann am anderen Ende der Schließfachanlage. Dieser sah ihn an, drehte sich aber nach dem kurzen Blickkontakt sofort um. Der Fremde, der ein ausgefallenes, großkariertes Sakko trug und in dessen tiefschwarzem Haar eine Sonnenbrille steckte, machte sich an einem der Fächer zu schaffen und beachtete Paul nicht weiter. Dieser hielt die Begegnung nicht für wichtig, zuckte die