Frühe Formierungen
Am Sonntag, dem 13. Januar 1935, stimmte die Bevölkerung des Saarlandes darüber ab, ob das Saargebiet zu Deutschland zurückkehren, ob es weiter – wie seit 1920 – unter der Verwaltung des Völkerbundes bleiben, oder ob es an Frankreich fallen sollte. Das war im Versailler Vertrag so verordnet worden. Bis dahin hielt Frankreich das Mandatsgebiet besetzt und beutete die saarländischen Kohlengruben und Hüttenwerke aus.
Meine Eltern und ich wohnten damals in Mechernich, einem Bergarbeiterstädtchen in der Nordeifel, das an der Eisenbahnstrecke Köln-Trier liegt. Es gehörte zur preußischen Rheinprovinz, die sich von Kleve bis zum südlichen Hunsrück erstreckte und an die sich das Saargebiet anschloß.
Lehrer Baur hatte uns in der Volksschule wochenlang auf die Abstimmung vorbereitet. Er verband das immer wieder mit Erläuterungen des Versailler Vertrages und seiner Knebelungsparagraphen. So nannte er das. Den Vertrag selbst bezeichnete er als »Versailler Diktat«.
Weiteres Wissen über die Weimarer Zeit floß mir zu aus den Erzählungen meines Vaters und aus den Schilderungen der Brüder und Schwäger meiner Mutter.
Meine Kenntnisse über geographische Gegebenheiten orientierten sich damals nach Ländern, Regionen und Städten, die man dem Reich nach dem Ersten Weltkrieg genommen hatte. Das fing an mit den früheren deutschen Kolonien und ging bis zu Danzig, Nordschleswig, dem Memelland, dem Saarland und dem Hultschiner Ländchen.
Den Ausdruck »Reich« oder »Deutsches Reich« gebrauchte man noch völlig unbefangen und selbstverständlich. Anders als 1806, als Kaiser Franz II. auf ein Ultimatum Napoleons hin die römisch-deutsche Kaiserwürde niederlegte und damit das Ende des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation besiegelte, war das neue deutsche Reich, die Gründung Bismarcks, mit der Niederlage nach dem Ersten Weltkrieg nicht untergegangen.
Die Weimarer Republik blieb nach Verfassung und Sprachgebrauch »Deutsches Reich«. Diese Einstellung galt nicht nur für die Nationalsozialisten, sondern für alle Parteien einschließlich der Kommunisten. Für viele Deutsche bedeutete die häufige Verwendung des Begriffs auch den Rückzug auf ein geistiges Reduit, von dem man glaubte, den Belastungen und Demütigungen, die der Versailler Friedensvertrag mit sich gebracht hatte, besser begegnen zu können. Erst die mystische Überhöhung des Reichsbegriffs, die von den Nationalsozialisten betrieben wurde, führte zu Unbehagen und hielt konservative und liberale Bürger zurück, die eigene natürliche Vaterlandsliebe mit dem aus der nationalsozialistischen Rassenideologie bezogenen Vormachtanspruch gleichzusetzen.
Die skeptische Distanz war angebracht. Das »Dritte Reich«, das einen Bestand von tausend Jahren haben wollte, brachte es nur auf zwölf. Einige Zeit nach seinem Zusammenbruch wurde der Reichsbegriff von Rechtsradikalen besetzt und bis heute mißbraucht.
Die Erläuterungen zu Versailles, die man mir im Schulunterricht vermittelte, wurden unterstrichen und erhärtet durch Bemerkungen meines Vaters und durch Diskussionen, die er mit Verwandten und Freunden führte und denen ich zuhören konnte. Während der Vorbereitungen auf die Wahl im Saargebiet erzählten mir mein Vater und ein Onkel, der in Berlin wohnte, daß die meisten Deut-schen tatsächlich einen Schock bekommen hätten, als die Friedensbedingungen bekannt gemacht worden seien. Nach der Veröffentlichung des Vertragstextes am 7. Mai 1919 sei ein Sturm der Entrüstung durch Deutschland gegangen. Unsere Regierenden hätten den vierzehn Punkten vertraut, die der amerikanische Präsident Woodrow Wilson im Januar 1918 verkündet habe. Statt zum »Gerechtigkeitsfrieden« von Wilson se