: Barbara John
: Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen Was der NSU-Terror für die Opfer und Angehöringen bedeutet
: Verlag Herder GmbH
: 9783451801600
: HERDER spektrum
: 1
: CHF 8.90
:
: Gesellschaft
: German
: 144
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der NSU-Prozess hält die deutsche Öffentlichkeit in Atem. Der Fokus der Journalisten liegt dabei vor allem bei den Tätern und deren Helfern. Die Opferfamilien blieben dagegen bislang weitgehend im Hintergrund, so als wären die Nebenkläger nur am Rande Beteiligte des Prozesses. Die Rede ist vom 'Staatsterror'durch den NSU, aber für die Betroffenen geht es um eine ganz individuelle Katastrophe. In diesem Buch kommen die Hinterbliebenen erstmals selbst zu Wort. Sie schildern, was die Mordserie und deren öffentliche Wahrnehmung für sie bedeutet, wie sie ihr Leben verändert hat. Eindrucksvoll berichten sie von ihrem Verhältnis zu zu Deutschland, das für viele von ihnen zur Heimat geworden ist - und in dem sie auch nach der Mordserie ihre Zukunft sehen. 'Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen' ist ein außergewöhnlicher Einblick in die Geschichten der Opfer und ein einzigartiger Beitrag zur Verarbeitung eines deutschen Traumas.

Barbara John ist seit 2012 Ombudsfrau für die Hinterbliebenen der Opfer der NSU-Morde. Lange Jahre war sie Ausländerbeauftragte des Berliner Senats, seit 2007 Vorsitzende des Beirats der Antidiskriminierungsstelle des Bundes.

Einleitung der Herausgeberin


Warum dieses Buch?


Nachdem ich schon fast zwei Jahre als Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opfer und Hinterbliebenenfamilien der NSU-Gewalttaten tätig war, fiel mir auf, dass etwas Wichtiges fehlte in allen Diskussionen, Reden, Untersuchungsausschüssen. Es fehlte das Leben der Opfer des NSU. In den Medien und Akten war zwar viel über sie zu lesen: wann und wie sie ermordet wurden, welche Tätigkeiten sie ausübten, warum sie von den Ermittlern verdächtigt wurden, selbst irgendwie in die Taten verwickelt gewesen zu sein, welche Verletzungen sie als Opfer der Bombenanschläge erlitten hatten. Fakten und Tatsachen in Fülle. Das war's dann auch schon. Doch was hatte das mit ihrem Leben zu tun?

Sie alle hatten ein ganzes, ein unverwechselbares Leben, auch die jüngsten Opfer Halit Yozgat (21) und Michèle Kiesewetter (22). Für sich selbst sprechen, das können sie nicht mehr, aber ihre Familien und Freunde können es. Also bat ich sie darum. Und als sie begannen für dieses Buch vom gemeinsamen Leben mit ihrem Ehemann, ihrem Sohn, ihrer Tochter, ihrem Vater oder Bruder zu erzählen, sprachen sie auch über ihr eigenes Leben: Wie es war, als sie noch alle zusammen waren, und wie es jetzt, im Bewusstsein des Verlustes, für sie allein weitergeht. Verloren hatten sie einen geliebten Familienangehörigen, das Grundvertrauen in ihre neue Heimat Deutschland, und nicht zuletzt ihre materielle Existenzgrundlage. Das zu schildern und sich mit ihren Berichten persönlich zu öffnen, ist vielen Familien schwergefallen. Aber sie alle wollten mitwirken, als es darum ging, erstmals gemeinsam in einem Buch die Stimme zu erheben. So haben sie ein einmaliges Zeitdokument geschaffen mit ihrer persönlichen Sicht auf die grausamste rechtsextreme Gewaltserie in der deutschen Nachkriegsgeschichte und das verantwortungslose Handeln der Sicherheitsbehörden bei der Aufklärung. Ein Dokument von anhaltender Trauer, jahrelanger Verletzung, finanziellem Ruin und verwundetem Heimatgefühl. Es zeigt, wie sich die Familien dem Trauma stellen, wie sie der naheliegenden persönlichen Verbitterung ausweichen und für eine unbeschwertere Zukunft in Deutschland kämpfen. Der Titel dieses Buches,Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen, ist auf den ersten Blick nur die Umkehrung der oft gedankenlos bei Traueranlässen dahingesagten Trost-Formel »Die Zeit heilt alle Wunden«. Manche Trauernde mögen sich das auch wünschen. Nur weit weg sein von dem düstersten Kapitel in meinem Leben. Aber längst nicht alle denken so. Auch wenn sie nicht dauernd an ihren Verlust erinnert werden wollen, so sind sie doch manchmal eher erschrocken als erleichtert, wenn die Erinnerung verblasst. Bei den Familien der Opfer ist das bisher kein Thema, müssen sie sich doch als Zeugen und als Nebenkläger im Prozess gegen die Angeklagte Zschäpe und ihre Helfer immer wieder mit der Vergangenheit aktuell auseinandersetzen. Von jüngeren Mitgliedern der Familien wird das oft als Belastung empfunden, denn für sie schreibt sich Zukunft größer als Vergangenheit.

Doch nicht nur für die Familien, sondern für uns alle steht nach diesen Morden und Bombenanschlägen »zum Schutz der deutschen Nation«, wie es die Täter ausdrückten, ein Imperativ: Diese Wunden dürfen nicht heilen im kollektiven Gedächtnis Deutschlands! Es sind Deutschlands Wunden. Der Schmerz der Familien ist auch unser Schmerz, eingebrannt in die Nachkriegsgeschichte unseres Landes.

Das klingt nach den üblichen Sonntagsreden von folgenloser Richtigkeit.