Erstes Kapitel
in dem Matilda lieber nicht bleiben möchte. Es wird erklärt, warum Sylvester fast jede Nacht auf den Haaren der Erzählerin liegt.
»Ich liebe dich«, sagt Sylvester, und er sagt das, als würde ihn jemand dabei fotografieren. Wir sind in der Küche. Ich sitze auf der Spüle, Sylvester hat zerknittertes Geschenkpapier in der Hand. An dem Geschenkpapier hängt ein Kärtchen, »Alles Gute«, steht darauf.
Sylvester und ich sind kein Paar, und ich kann es nicht leiden, wenn Sylvester »Ich liebe dich« sagt. Vor allem, weil ich ihm dann »Ich liebe dich« zurücksagen soll, und zwar möglichst prompt.
Früher habe ich Sylvester gefragt, ob auch »Ich hab dich lieb« gilt, aber Sylvester behauptet, das gelte nicht. Früher habe ich Sylvester erklärt, dass »Ich liebe dich« sich abnutzt, je öfter man es sagt. Die Amerikaner beispielsweise, habe ich erklärt, sagen »Ich liebe dich« so oft, dass »Ich liebe dich« auf amerikanisch nicht mehr bedeutet als »Bis nachher«.
Es klingelt. Sylvester legt das glatt gestrichene Geschenkpapier auf den Kühlschrank, ich rutsche von der Spüle und gehe durch den Flur, in dem kleine Kartons mit Luftlöchern stehen. Sylvester geht mir hinterher, überholt mich und stellt sich vor die Wohnungstür. »Du willst also sagen«, sagt er, »dass du eine bist, die alles, was kostbar ist, verwahrt und aufspart für seltene Sonntagsbesuche.«
Um den Betrieb nicht aufzuhalten, weil es noch mal klingelt und seltene Sonntagsbesuche nach Kondensmilch klingt, sage ich Sylvester »Ich liebe dich« zurück, wie er es mir beigebracht hat, nicht zu laut, nicht zu leise, und Sylvester sagt: »Mit Namen.«
Ich sage: »Du hast auch nicht mit Namen.«
Sylvester sagt: »Natürlich habe ich mit Namen.«
Also sage ich: »Ich liebe dich, Sylvester«, wegen des Betriebes. Sylvester grinst, und ich frage: »Können wir dann jetzt bitte aufmachen?«
»Gern«, sagt Sylvester und öffnet die Tür.
Vor der Tür steht Matilda und sagt: »Guten Tag, es tut mir leid, dass ich so wenig gesagt habe.«
Matilda sagt aber eigentlich nie viel, und wenn, dann sagt sie es sehr leise. Wir haben uns daran gewöhnt und halten unsere Ohren nahe an ihr Gesicht. Nur manchmal sagen wir: »ein bisschen, nur ein bisschen lauter bitte, Matilda.«
»Ihr spinnt ja«, sagt Matilda dann, »ich schreie.« Wir sagen, sie schreie ganz und gar nicht, dann redet sie ein bisschen lauter, wir lehnen uns zwei Sätze lang zurück, bis Matilda wieder leise wird.
»Komm rein«, sage ich. Matilda kommt rein und sieht verfolgt aus. »Du siehst irgendwie verfolgt aus«, sage ich.
»Was?«, fragt sie.
»Du siehst aus, als wäre jemand hinter dir her gewesen«, sage ich.
»Mir geht's gut«, sagt Matilda, schiebt Geschenkpapier und eine Schüssel zur Seite und stellt eine Tüte Milch auf den Tisch. Der Tisch ist voll mit schmutzigen Tellern, Töpfen und Schüsseln.
»Habt ihr überhaupt geschlafen?«, fragt sie. »Kaum«, sagt Sylvester und tut drei Löffel Nutella und die Milch in einen Topf.
Ich setze mich wieder auf die Spüle, Matilda stellt sich neben mich. Ich gucke sie an. Sie legt den Arm um meine Schulter und lächelt. »Guck nicht so«, sagt sie, »ich habe auch nicht viel geschlafen.«
»Ach so«, sage ich.
»War doch aber schön gestern«, sagt sie. »Klar war's schön«, sagt Sylvester, und ich sage, »eigentlich schon.«
Matilda und Sylvester gucken mich ernst an. Sie hatten darauf bestanden. Matilda ist gut im Beteuern, und sie und Sylvester hatten beteuert, dass sie alles übernehmen würden, das Kochen, das Reden, das Tanzen und das Nachschenken, und also sage ich, »ja, schön.«
Ich wollte meinen Geburtstag nicht feiern, weil mir Feiern immer missraten sind, und habe behauptet, die wirklichen Feste fänden im Kopf statt, weil ich das auf einer Postkarte gelesen hatte. Ich hatte das auch dieses Jahr behauptet, aber Matilda und Sylvester hatten gesagt, mit den Festen im Kopf sei das ja wohl so eine Sache.
Die Feste im Kopf seien Reinfeierfeste, untröstliche Veranstaltungen, bei denen alle Gäste auf zwanzig nach zwölf warten, weil man dann gehen kann. Also haben Matilda und Sylvester angefangen mit ihren Beteuerungen, sie würden schon reden, kochen, tanzen und nachschenken, und es ist dann auch alles gut gegangen, und um zwanzig nach zwölf hat keiner außer mir gewusst, dass es zwanzig nach zwölf ist.
Um zwanzig nach zwölf hat Sylvester die Nachbarin geküsst, die schon lange darauf gewartet hatte, von ihm geküsst zu werden. Sylvester und die Nachbarin standen in einem Türrahmen und küssten sich insgesamt bis viertel vor zwei. Sylvester hatte seine eine Hand im Nacken der Nachbarin und in der anderen ein halb volles Weinglas, das er wegen der Küsse der Nachbarin ab und zu vergaß und in eine Schräglage geraten ließ, dann ging ich hin und drehte Sylvesters Handgelenk wieder gerade.
Um zwanzig nach zwölf ließ Matilda den stehen, mit dem sie versucht hatte, sich zu unterhalten. Sie hatte beteuert, sich zu unterhalten, aber der, mit dem sie es versucht hatte, hatte immer »wie bitte« gefragt, »was bitte« und »noch mal«. Dabei hatte er immer hilfloser und trauriger ausgesehen, weil man sich ausschließlich freuen möchte, wenn Matilda versucht, sich mit einem zu unterhalten, weil man sie verstehen möchte und weil es riskant ist, zu nicken oder den Kopf zu schütteln und so zu tun, als hätte man etwas verstanden.
Matilda fängt an, das verklebte Geschirr einzuweichen. Ich stütze die Ellenbogen auf die Knie, den Kopf in die Handflächen und sehe ihr dabei zu. Matilda lächelt mich an. »Geh mal von der Spüle runter«, sagt sie, »sonst wirst du nass.«
»Ich kann mich nicht mehr bewegen«, sage ich und rutsche ein Stück zur Seite, um dem sauberen Geschirr Platz zu machen.
Sylvester stellt drei Tassen auf den Tisch und kippt Schokolade hinein. Die Schokolade ist dick und braucht lange, bis sie in der Tasse angekommen ist. Ich tue nichts und tippe Matilda auf die Schulter. »Jetzt sag doch mal«, sage ich.
Matilda dreht sich um und streicht sich mit dem Handgelenk eine Strähne aus der Stirn.
»Was denn?«, fragt sie und stellt einen nassen Teller neben mich.
»Was mit dir los ist«, sage ich.
»Mit mir ist ganz bestimmt nichts los«, sagt Matilda und kratzt in einer Schüssel. »Aber du siehst komisch aus«, sage ich. »Du siehst auch komisch aus«, sagt Matilda, »du musst dich mal