: Alfred Döblin
: Marion Brandt
: Reise in Polen Fischer Klassik PLUS
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104033051
: 1
: CHF 10.00
:
: Hauptwerk vor 1945
: German
: 368
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Alfred Döblins beeindruckendes Reisejournal aus dem Jahr 1924 Nach pogromartigen Ausschreitungen im Jahr 1923 begann sich Döblin mit seiner jüdischen Herkunft zu beschäftigen und interessierte sich wie viele seiner Zeitgenossen für das sogenannte Ostjudentum. 1924 reiste er nach Polen und porträtierte die junge Republik mit ihrem damals noch blühenden jüdischen Leben. Ein bewegendes Zeugnis aus der Zeit vor dem deutschen Überfall auf Polen. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Marion Brandt

Alfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, arbeitete zunächst als Assistenzarzt und eröffnete 1911 in Berlin eine eigene Praxis. Döblins erster großer Roman erschien im Jahr 1915/16 bei S. Fischer. Sein größter Erfolg war der 1929 ebenfalls bei S. Fischer publizierte Roman ?Berlin Alexanderplatz?. 1933 emigrierte Döblin nach Frankreich und schließlich in die USA. Nach 1945 lebte er zunächst wieder in Deutschland, zog dann aber 1953 mit seiner Familie nach Paris. Alfred Döblin starb am 26. Juni 1957.

Die Judenstadt von Warschau


Die Juden: Lautlos hat der Verzicht auf Land und Staatlichkeit ihr Volk durchdrungen. – Die Rückwärtsbewegung, sie ist im Gange.

350000 Juden wohnen in Warschau, halb so viel wie in ganz Deutschland. Eine kleine Menge sitzt verstreut über die Stadt, die Masse haust im Nordwesten beieinander. Es ist ein Volk. Wer nur Westeuropa kennt, weiß das nicht. Sie haben ihre eigene Tracht, eigene Sprache, Religion, Gebräuche, ihr uraltes Nationalgefühl und Nationalbewußtsein.

Aus Palästina, ihrem Stammland, wurden sie vor zwei Jahrtausenden geworfen. Dann trieben sie sich in vielen Ländern herum, teils wandernd, teils gejagt, Händler, Kaufleute, Geldleute, geistig immer in enger Berührung mit dem Wirtsvolk, dabei fest an sich haltend. Teile bröckelten ständig ab, im Ganzen blieb das Volk. Und jetzt ist die Masse seiner Menschen größer als vor zwei Jahrtausenden. Man preßte sie von Süden nach Norden, aus Spanien heraus, wo sie zu Hunderttausenden siedelten, aus Frankreich nach Deutschland, in das Polen- und Russenland hinein. Immer warf sich ökonomischer Haß über sie, Abneigung gegen das fremde Volk, Widerwille, Furcht vor ihrem fremden Kult. Dieses Polen nahm sie im dreizehnten Jahrhundert auf.

Sie gerieten in ein Land, das städtearm war, zwischen Bauern und Adel, übernahmen die Funktionen eines Bürgerstandes. Das Privileg eines Herzogs Boleslaw schützte sie, ließ ihnen ihre Rechtsprechung und innere Selbstverwaltung. Das Privileg wurde mehrfach, auch durch Kasimir den Großen, bestätigt, zuletzt durch den Polenkönig Stanislaus August im18. Jahrhundert. Einen hohen Grad wirklicher Autonomie besaßen sie. Das Wort ging früh um: »Polen, der Himmel des Adels, das Paradies der Juden, die Hölle der Bauern.« Jedes Jahrhundert erlebte dabei seine Judenhetzen. Die neue Nationalzeit nahm ihnen die Privilegien. Die Minoritäten- und Autonomiepolitik tritt jetzt im anderen Kleid auf.

In dieser Stadt Warschau setzten sie sich an in der Abrahamsgasse im Zentrum, waren vom Handel ausgeschlossen nach dem Magdeburger Recht, das Warschau hatte: handeln dürfen nur Städter und Christen. Sie wurden mehrfach aus der Stadt verjagt, lebten auf den Dörfern unter dem Schutz des Adels. Noch auf dem Großen Reichstag1788 forderten Warschauer Magistratsdeputierte die Verschärfung aller Judenerlasse. Aber sie blieben vom Adel geschützt. »Es gibt gewisse ökonomische Notwendigkeiten, gegen die alle anderen Faktoren nichts ausmachen.« Mit dreieinhalb Millionen Menschen wächst das Volk heute in Polen.

Die Nalewkistraße läuft im Nordwesten Warschaus im gleichen Zuge mit der Marschallstraße und der Krakauer Vorstadt. Die breite Nalewki ist die Hauptader der Judenstadt. Nach links und rechts laufen von ihr lange Straßen ab mit neuen Querstraßen und Gassen. Und alles gefüllt und wimmelnd von Juden. Elektrische durchfahren die Nalewkistraße. Ihre Häuser haben Fronten wie die meisten Häuser Warschaus, bröcklig, unsauber. Höfe tauchen in alle Häuser hinein. Ich gehe auf einen; er ist viereckig und wie ein Markt von lauten Menschen, Juden, meist im Kaftan, erfüllt. In den Que