Kindheit
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Vor langer, langer Zeit, als ich ein ganz junges Mädchen war, sagte mir einmal eine Zigeunerin, dass ich von Leid und Kummer verschont bleiben würde, solange ich nahe am Wasser lebte. Ich weiß, es ist recht banal, eine Geschichte mit Prophezeiungen, besonders denen von Zigeunerinnen, zu beginnen, aber glücklicherweise hat diese Vorhersage sich nicht erfüllt. Ob ich nahe am Wasser lebte oder nicht, das hatte auf Glück oder Unglück in meinem Leben keinerlei Einfluss. Aber mancher innere Sturm legte sich, wenn ich auf die schaumgekrönten Wellen des Pazifiks blickte oder dem Gemurmel eines Alpenbaches lauschte. Und so vergaß ich nie die Zigeunerin und ihre Prophezeiung, die vor mir die Landschaft meiner Kindheit heraufbeschwor und das Haus am Fluss, in dem ich lebte und aufwuchs.
Der Name des Flusses war Dnjestr. Wo wir wohnten, war er jung und wild, er war nicht weit von seiner Quelle in den Karpaten, und er floss durch ein Kieselbett und nahm, an manchen Stellen seicht, an anderen plötzlich tief und reißend, seinen steten und unregulierten Lauf zum Schwarzen Meer.
Das Land, in dem ich geboren wurde, war Galizien, jener Teil Polens, der nach der Teilung von 1775 zu Österreich gehörte. Heute heißt es Karpato-Ukraine und ist ein Teil der Sowjetunion. Die Stadt Sambor hatte fünfundzwanzigtausend Einwohner, etwa viertausend Polen, achtzehntausend Ukrainer und dreitausend Juden. Sie war auch Garnisonsstadt, was für die jüngere weibliche Bevölkerung nicht ohne Bedeutung war.
Die Stadt lag zwei Kilometer östlich vom Fluss und von unserem Haus entfernt, das »Wychylowka« hieß. »Wychylac« bedeutet auf Polnisch »hinauslehnen«.
Die Rechtsanwaltskanzlei meines Vaters war in der Stadt. Er besaß auch dort ein Haus, wohnte aber lieber auf dem Land. Nachdem man ihn zum Bürgermeister von Sambor gewählt hatte, musste Wychylowka eingemeindet werden, denn es war schlechterdings unmöglich, dass der Bürgermeister seinen Wohnsitz außerhalb der Stadtgrenzen hatte.
Wychylowka blieb von alldem unberührt, und uns Kindern machte es nichts aus, ob wir in der Stadt oder auf dem Lande lebten. Zwischen dem Haus und dem Fluss lagen unsere Felder und eine Wiese; auf der anderen Seite des Flusses erstreckte sich weit das sanft hügelige, fast unbewohnte Land mit Weizenfeldern, Weiden und Wäldern.
Jenseits der Straße lag ein Gehölz. Wir nannten es das »Wäldchen«. Alte knorrige Bäume standen in kleinen Gruppen, und unter ihnen weidete das Vieh. Dahinter kam wieder weites bestelltes Land, und dann ragte die lange blaue Kette der Karpaten auf, fern, hell und verschwommen an sonnigen Tagen und dunkel, graugrün und schrecklich nahe, wenn Regen und Schneestürme drohten.
Ein großer, leerer Platz auf der Ostseite trennte unser Anwesen von dem einzigen Industrieunternehmen der Gegend: einer Likörfabrik, die einst Verwandten meines Vaters gehört hatte, sich jetzt aber (ebenso wie der leere Platz) im Besitz eines reichen Juden namens Pan Tiger befand. Mein Vater sprach nicht mit ihm.
Unser anderer Nachbar weiter unten an der Straße war der alte Lamet; ihm gehörte die »Kartschma«, das Wirtshaus am Wäldchen, eine uralte, primitive Hütte mit einer Holzveranda, wo die Bauern auf dem Weg zum Markt oder bei der Rückkehr aus der Stadt einkehrten, um Wodka zu trinken. Der alte Lamet war eine eindrucksvolle Erscheinung. Er war groß und aufrecht, sein edles Gesicht umrahmte ein langer schneeweißer Bart. Er sprach ein schönes akzentfreies Polnisch. Am Sabbat trug er einen seidenen Kaftan und eine pelzbesetzte Kappe. Wenn ich vorn Wäldchen um das Wirtshaus herumschlich, konnte ich den alten Lamet am weiß gedeckten Tisch sitzen sehen, umgeben von Söhnen, Töchtern und Enkelkindern. Seine Frau, ein verschrumpeltes altes Weiblein, zündete die Kerzen an, dann sprach er den Segen. Da meine Eltern sich nie um irgendeine Religion gekümmert hatten und ihre eigene nicht praktizierten, war dies alles für mich seltsam geheimnisvoll und faszinierend.
Unser Haus war groß und voller Ecken und Winkel. Es war kein architektonisches Meisterwerk, aber auch nicht ausgesprochen hässlich.
Auf der Rückseite lag unter einer langen gedeckten Veranda der riesige Obst- und Gemüsegarten, aufgeteilt in rechteckige Beete, die durch Kieswege voneinander getrennt waren, an denen Himbeer-, Stachelbeer- und rote und weiße Johannisbeersträucher wuchsen. Der