: Salka Viertel
: Das unbelehrbare Herz Erinnerungen an ein Leben mit Künstlern des 20. Jahrhunderts
: Die Andere Bibliothek
: 9783847753131
: Die Andere Bibliothek
: 2
: CHF 11.60
:
: Romanhafte Biographien
: German
: 512
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Einer der Quelltexte der Exilforschung des 20. Jahrhunderts*»Salkaherz« - ein Genie der Freundschaft im kalifornischen Exil*Wie aus einem Künstlerlexikon zur ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts lesen sich die Namen der Freunde, die Salomea Steuermann, von allen nur Salka Viertel genannt, um sich zu versammeln wusste: Karl Kraus und Alfred Polgar, Max Reinhardt, Thomas und Heinrich Mann, Albert Einstein und Arnold Schönberg, Sergej Eisenstein und Greta Garbo, deren Drehbuchautorin sie war, Bertolt Brecht und Bruno Frank, Hanns Eisler - und viele andere Künstler, mit und ohne Namen.*Diese faszinierende und früh emanzipierte Salka Viertel war kein Hollywood- Filmstar und keine mondäne Gesellschaftsdame, sondern eine begnadete Gastgeberin, die ihr Haus an der Mabery Road in Santa Monica zum vielgerühmten Salon machte - schließlich zum »Hafen für die Heimatlosen«, die europäischen Emigranten nach 1933.*Salka Viertels Lebenserinnerungen, Ende der 60er Jahre in den Vereinigten Staaten erschienen, sind die Memoiren einer fast Vergessenen, die einen unvergleichlichen Blick auf dramatische Jahrzehnte europäischer Kulturgeschichte ermöglichen - vor allem auf die Welt des Theaters und des Films bis 1933 und die Exilierung dieser Kultur in Kalifornien.

Salka Viertel wurde 1889 als Salomea Steuermann geboren und entstammte einer großbürgerlichen jüdischen Familie im damals österreichischen Galizien. Sie spielte in Berlin Theater unter Max Reinhardt, und in Wien lernte sie ihren Mann, den Regisseur Berthold Viertel, kennen, den ein Hollywood-Engagement nach Kalifornien führte; ein Intermezzo wurde zum Exil. Dort zieht sie drei Söhne groß, organisierte Hilfe für die von den Nazis Verfolgten - und kehrte in der McCarthy-Ära nach Europa zurück. 1978 starb Salka Viertel in der Schweiz. Der Autor des Vorworts Michael Lentz, 1964 geboren, ist Literaturwissenschaftler, Lyriker und Autor von Romanen, Erzählungen, Hörspielen und Theaterstücken - und wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis 2001. Er ist Professor für Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sein Roman »Pazifik Exil« stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2007.

Kindheit


1


Vor langer, langer Zeit, als ich ein ganz junges Mädchen war, sagte mir einmal eine Zigeunerin, dass ich von Leid und Kummer verschont bleiben würde, solange ich nahe am Wasser lebte. Ich weiß, es ist recht banal, eine Geschichte mit Prophezeiungen, besonders denen von Zigeunerinnen, zu beginnen, aber glücklicherweise hat diese Vorhersage sich nicht erfüllt. Ob ich nahe am Wasser lebte oder nicht, das hatte auf Glück oder Unglück in meinem Leben keinerlei Einfluss. Aber mancher innere Sturm legte sich, wenn ich auf die schaumgekrönten Wellen des Pazifiks blickte oder dem Gemurmel eines Alpenbaches lauschte. Und so vergaß ich nie die Zigeunerin und ihre Prophezeiung, die vor mir die Landschaft meiner Kindheit heraufbeschwor und das Haus am Fluss, in dem ich lebte und aufwuchs.

Der Name des Flusses war Dnjestr. Wo wir wohnten, war er jung und wild, er war nicht weit von seiner Quelle in den Karpaten, und er floss durch ein Kieselbett und nahm, an manchen Stellen seicht, an anderen plötzlich tief und reißend, seinen steten und unregulierten Lauf zum Schwarzen Meer.

Das Land, in dem ich geboren wurde, war Galizien, jener Teil Polens, der nach der Teilung von 1775 zu Österreich gehörte. Heute heißt es Karpato-Ukraine und ist ein Teil der Sowjetunion. Die Stadt Sambor hatte fünfundzwanzigtausend Einwohner, etwa viertausend Polen, achtzehntausend Ukrainer und dreitausend Juden. Sie war auch Garnisonsstadt, was für die jüngere weibliche Bevölkerung nicht ohne Bedeutung war.

Die Stadt lag zwei Kilometer östlich vom Fluss und von unserem Haus entfernt, das »Wychylowka« hieß. »Wychylac« bedeutet auf Polnisch »hinauslehnen«.

Die Rechtsanwaltskanzlei meines Vaters war in der Stadt. Er besaß auch dort ein Haus, wohnte aber lieber auf dem Land. Nachdem man ihn zum Bürgermeister von Sambor gewählt hatte, musste Wychylowka eingemeindet werden, denn es war schlechterdings unmöglich, dass der Bürgermeister seinen Wohnsitz außerhalb der Stadtgrenzen hatte.

Wychylowka blieb von alldem unberührt, und uns Kindern machte es nichts aus, ob wir in der Stadt oder auf dem Lande lebten. Zwischen dem Haus und dem Fluss lagen unsere Felder und eine Wiese; auf der anderen Seite des Flusses erstreckte sich weit das sanft hügelige, fast unbewohnte Land mit Weizenfeldern, Weiden und Wäldern.

Jenseits der Straße lag ein Gehölz. Wir nannten es das »Wäldchen«. Alte knorrige Bäume standen in kleinen Gruppen, und unter ihnen weidete das Vieh. Dahinter kam wieder weites bestelltes Land, und dann ragte die lange blaue Kette der Karpaten auf, fern, hell und verschwommen an sonnigen Tagen und dunkel, graugrün und schrecklich nahe, wenn Regen und Schneestürme drohten.

Ein großer, leerer Platz auf der Ostseite trennte unser Anwesen von dem einzigen Industrieunternehmen der Gegend: einer Likörfabrik, die einst Verwandten meines Vaters gehört hatte, sich jetzt aber (ebenso wie der leere Platz) im Besitz eines reichen Juden namens Pan Tiger befand. Mein Vater sprach nicht mit ihm.

Unser anderer Nachbar weiter unten an der Straße war der alte Lamet; ihm gehörte die »Kartschma«, das Wirtshaus am Wäldchen, eine uralte, primitive Hütte mit einer Holzveranda, wo die Bauern auf dem Weg zum Markt oder bei der Rückkehr aus der Stadt einkehrten, um Wodka zu trinken. Der alte Lamet war eine eindrucksvolle Erscheinung. Er war groß und aufrecht, sein edles Gesicht umrahmte ein langer schneeweißer Bart. Er sprach ein schönes akzentfreies Polnisch. Am Sabbat trug er einen seidenen Kaftan und eine pelzbesetzte Kappe. Wenn ich vorn Wäldchen um das Wirtshaus herumschlich, konnte ich den alten Lamet am weiß gedeckten Tisch sitzen sehen, umgeben von Söhnen, Töchtern und Enkelkindern. Seine Frau, ein verschrumpeltes altes Weiblein, zündete die Kerzen an, dann sprach er den Segen. Da meine Eltern sich nie um irgendeine Religion gekümmert hatten und ihre eigene nicht praktizierten, war dies alles für mich seltsam geheimnisvoll und faszinierend.

Unser Haus war groß und voller Ecken und Winkel. Es war kein architektonisches Meisterwerk, aber auch nicht ausgesprochen hässlich.

Auf der Rückseite lag unter einer langen gedeckten Veranda der riesige Obst- und Gemüsegarten, aufgeteilt in rechteckige Beete, die durch Kieswege voneinander getrennt waren, an denen Himbeer-, Stachelbeer- und rote und weiße Johannisbeersträucher wuchsen. Der