FAMILIENGESCHICHTEN I – GROSSE VORFAHREN
Der junge Graf Heinrich war ein Lehndorff. Auch wenn ihm das offenbar in seiner Kinder- und Schulzeit nicht allzuviel bedeutete, wer aus einer solchen Familie stammt, wächst mit Geschichte auf – und mit vielen Geschichten.
Die Lehndorffs gehören zu den großen und bekannten Familien Ostpreußens, wie die Dohnas, Dönhoffs, Eulenburgs, Groebens, Kanitz. Alle diese Familien leben heute nicht mehr an ihren Herkunftsorten, sie haben auch nicht mehr ihre frühere Bedeutung. Damit fängt die Schwierigkeit der Suche nach den fernen Wurzeln eines individuellen Schicksals an, das ohne diese Ursprünge doch nicht zu verstehen ist. Jede Kindheit hat ihre Vorgeschichte, und manche Vorgeschichten prägen ein späteres Leben mehr, als es den einzelnen bewußt ist.
Viele der großen Adelsfamilien waren Anfang des 16. Jahrhunderts mit dem Deutschen Ritterorden nach Ostpreußen gekommen. Die Wurzeln der Lehndorffs reichen weiter zurück. Sie waren westpreußisch-pruzzischer Abstammung, hatten also seit Menschengedenken in diesen östlichen Landstrichen gelebt. Erst seit 1420 ist das spätere Steinort als Stammsitz der Familie vermerkt. Ihre Ursprünge aber sind im westpreußischen Kulmer Land zu finden, im Geschlecht der Stangos. Lange vor der Ankunft der Deutschen Ritter siedelten sie in einer Ortschaft namens Mgowo. Dieser Flecken wurde dann zur Zeit der Ritterherrschaft »Legendorf« genannt. Die Vorfahren der Lehndorffs müssen in ihrem Stammesgebiet eine führende Funktion gehabt haben – sei es durch offene Wahl der ansässigen freien Bauern, sei es durch glücklich gewonnene Familienfehden. Erst mit dem anbrechenden Jahrhundert der fremden Kolonisatoren mußten sie sich dem Orden unterwerfen oder waren gezwungen, sich mit ihm zu arrangieren. Was ihnen einst gehörte, wurde nun zum »Lehen« erklärt. Folglich hießen sie »von Legendorf«, später »von Lehendorf« oder »von Lehndorff«.
Information 2009 von Stanislaus Graf Dönhoff, Schönstein
Die Politik, das Militär, der Landbesitz und vor allem die Pferde bestimmten die Geschicke aller Geschlechter der Lehndorffs. Eines der bekanntesten Familienmitglieder aus dieser Zeit der Kooperation mit dem Ordensstaat war Paul Legendorf, der Bischof von Ermland. Die ersten Gutsbesitzer erhielten den Titel »Amtshauptmann von preußisch Eilau bzw. von Oletzkow«. Der erweiterte Besitz Steinort wurde wahrscheinlich Fabian von Lehndorff zugesprochen, obwohl die ostpreußische Geschichtsliteratur meist vermeldet, daß die Verleihungsurkunde für die »Große Wildnis am See« – das spätere Steinort – erst Anfang des 16. Jahrhunderts vom deutschen Ritterorden an Fabian, Caspar und Sebastian von Lehndorff gemeinsam ausgestellt worden sei. Im Jahre 1590 wurde deren Enkel, Meinhard, geboren, der die berühmteste Sehenswürdigkeit der Steinort-Anlagen gepflanzt hat, die Eichenallee, die bis heute als Naturschönheit eine magische Aura hat. Meinhard war Oberstleutnant und Landrat von Rastenburg. Mit dessen Sohn betreten die Lehndorffs das Feld der großen Politik und der großen Abenteuer, weit weg vom ursprünglichen Kulmer Land, weit weg aber auch von der sumpfigen Steinorter Wildnis, in der die ersten Eichen wuchsen, während die Kutschwagen nach langen harten Wintern regelmäßig tief im Morast versanken.
Über diese ersten politischen Vorfahren hat Hans von Lehndorff eine hinreißende kleine Familienskizze geschrieben:
»Meinhards Sohn, der den eigentümlichen Namen Ahasverus (Ahasverus Gerhard 1637–1688) trug, wurde 1637 geboren; er war erst zwei Jahre alt, als sein Vater starb. Seine Mutter, eine geborene zu Eulenburg, hatte ihren Bruder zu seinem Vormund bestellt. Ahasverus verlebte seine Kindheit in Steinort, wurde dann auf verschiedene Schulen geschickt, auf denen ihm eine universale Bildung zuteil geworden ist.
Hans Graf Lehndorff: Menschen, Pferde, weites Land, S. 204–206
Lesen wir heute seine Tagebuchaufzeichnungen und die Briefe, die er als junger Mensch an seine Mutter und an Freunde geschrieben hat, erscheint es uns fast unverständlich, wie ein Mensch unter den damalig