Der Gang nach Canossa
Mit eingeschäumten Wangen stand Christian vor dem Spiegel. Die Rasierklinge schuf glatte Bahnen. Je mehr er sich vom Schaum befreite, umso zweifelnder betrachtete er sein Gesicht: Ja, seine schlanke Nase, seine blauen Augen und sein schwarzer Wuschelkopf gaben ihm einen jugendlich-verspielten Charme, doch an den Koteletten entdeckte er Silberfäden und seine wilden Locken verschleierten kleine Geheimratsecken.
Als er am späten Morgen über den Stephansplatz schlenderte, wehte ihm der kalte Märzwind entgegen. Er stellte den Kragen seines Wolljacketts hoch und wickelte den roten Kaschmirschal fester um den Hals. Weil die Espressomaschine im Büro gerade in der Reparatur war, steuerte er auf ein Café zu. Gleichzeitig mit ihm kamen drei chinesische Touristinnen ins Geschäft. Einer fiel das Halstuch zu Boden. Reflexartig beugte sich Christian danach und zögerte mitten in der Bewegung: War er schon wieder zu nett? In diesem Moment griff auch die Chinesin nach dem Tuch – die beiden stießen ums Haar zusammen. Die junge Frau kicherte, die beiden anderen Chinesinnen lächelten; schüchtern, verlegen, naiv. Irgendwie alle nett.Nicht nett sein, konnte doch unmöglich bedeuten, wie ein Rüpel durchs Leben zu trampeln. Nein, er wollte nett im Stil und ehrlich in der Sache sein, das war’s!
Er ließ sich zwei Becher mit Cappuccino geben, querte den Stephansplatz und ging auf das Haas-Haus zu, auf dessen Glasfassade sich die Morgensonne über mehrere Etagen spiegelte. Im sechsten Stock betrat er das Büro mit der AufschriftSelikowsky – Abteilung Marketing& Werbung. Seine Sekretärin stand von ihm abgewandt am Fenster und telefonierte. Jenny bemerkte ihn nicht, lachte, flirtete, plauderte. Ihrer bequemen Haltung nach zu schließen schon sehr lange.
Sollte er einfach in sein Büro huschen und ihr Privatgespräch ignorieren? Das wäre nett. Und verlogen!
Sollte er sich räuspern und dezent auf ihren Schreibtisch voller unerledigter Akten deuten? Das wäre nett. Und pädagogisch! Sollte er ihr Arbeitspensum aufzählen? Mit Kündigung drohen? Sie zusammenschimpfen? Nicht seine Art.
Schließlich schlich er sich an und stellte den Cappuccino auf ihren Schreibtisch. Kaum erreichte Jenny der Duft des Kaffees, drehte sich die hagere Blondine um – und wurde rot. Doch Christian war schon in seinem Zimmer verschwunden und nahm vor seinem Computer Platz.
Er hatte mit Jenny nicht das übliche Chef-Sekretärinnen-Verhältnis. Sie erinnerte ihn, wann er wo zu sein hatte, versorgte ihn mit Interna aus der Tiroler Firmenzentrale und brachte seine Hemden zur Putzerei. Im Gegenzug sah er großzügig darüber hinweg, dass sie jeden zweiten Tag zu spät und unausgeschlafen zur Arbeit erschien. Trotz des lockeren Umgangs redeten sie nie über private Dinge und siezten einander.
Das Büro war in die Jahre gekommen, der graue Teppichboden abgestoßen, Christians Stuhl quietschte, die Neonröhren blendeten. Am Computer stellte er einen neuen Werbekatalog zusammen: Fotos von Teddybären, Lo