Gabriele Huneus konnte es nicht ertragen, wenn sich die Blicke anderer auf sie richteten und sie im Mittelpunkt stand. An diesem Tag jedoch würde sich dies nicht verhindern lassen.
An diesem Tag, der die große Freiheit versprach.
Helene wird bei Tisch als Erste reden, dachte Gabriele, das lässt sie sich nicht nehmen. Auf die Worte der außergewöhnlichen Frau, die in einigen Monaten hundert Jahre alt werden würde, freute sie sich. Aber wie konnte sie die anderen Reden überstehen?
Lange hatte Gabriele überlegt, ob sie das schulterfreie, grasgrüne Kleid anziehen sollte, das sie beim Abiturball getragen hatte und das ihr Großvater so gerne an ihr sah. Sie entschied sich für das schlichte Schwarze, dessen Rocksaum mit einer schmalen Goldbordüre verziert war.
Hoffentlich fiel Hannah nicht wieder aus der Rolle. Seit den Tagen der Straßenbahnbesetzung wirbelte ihre jüngste Schwester alles durcheinander. Die Hansestadt war in Aufruhr gewesen. Fast eine ganze Woche lang.
Im Spiegel überprüfte Gabriele Lidstrich und Wimperntusche, Lippenstift und Make-up. Sie bürstete ihre langen, blonden Haare und zog das Klemmerchen, mit dem sie auf der linken Seite zurück gehalten wurden, heraus.
„Bist du bereit, Gabriele?“ Die tief tönende Stimme ihres Großvaters. Leise hatte er an ihre Zimmertür geklopft.
Obwohl sie seit einer Viertelstunde nur noch aufgeregt im Zimmer hin- und hergegangen war, bat Gabriele ihn jetzt um etwas Geduld.
Von ihrem Fenster aus hatte sie beobachtet, wie Musiker Instrumente ausluden und ins Haus trugen. Wahrscheinlich würden sie das Streichquartett von Claude Debussy spielen. Ihr Lieblingsstück.
Ob Onkel Alfred rechtzeitig aus Rom eintrifft? Der war immer für eine Überraschung gut. Signore Alfredo, wie er sich gerne nennen ließ. Wenn er das Wort ergriff, gab es stets etwas zu Lachen.
Gabriele kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in die linke Hand, um sich ein wenig zu beruhigen. Manchmal half das.
Wieder klopfte es an der Tür.
„Moment noch!“, rief Gabriele.
Ein letzter Blick in den Spiegel, schnell mit der Bürste durch die Haare fahren. Unter dem Auge war ein schwarzes Pünktchen von der Wimperntusche gelandet. Noch einmal zog sie mit dem Lippenstift die Konturen nach. Ihre Hand zitterte dabei leicht.
Wenn doch Wolfgang wenigstens an ihrer Sei