Kapitel 2
Die Räterepublik, die nach der Ermordung Eisners ins Leben gerufen wurde, hatte den Frühling nicht überlebt. Für Carla und Robert waren die Geschichten von den illegalen Freikorps, die München nach Kommunisten durchsuchten, zunächst nur eine Möglichkeit, einander mit Schreckgeschichten zu übertrumpfen. Dann wurde auch Dr. Goldmanns Wohnung durchsucht, und einer seiner Freunde verschwand.
»Dada meint, diese Korpsleute würden von der Polizei unterstützt. Aber dann müßten die Gefängnisse doch langsam aus allen Nähten platzen«, sagte Robert. Sie besuchten eine der Badeanstalten entlang der Isar, was Annis Idee gewesen war. Carlas Stiefmutter stand im Wasser und spritzte lachend ihren Mann naß, der so gutgelaunt und aufgeräumt wie selten wirkte. Es war ein schöner Tag, aber Carla, die dank der hellen Haut der Rothaarigen sehr leicht einen Sonnenbrand bekam, saß auf einem Handtuch im Schatten, und Robert, der nicht zugeben wollte, daß er nicht schwimmen konnte, saß neben ihr.
Carla zerrte etwas an dem Badeanzug, den sie trug. Er gehörte eigentlich Anni; die Größe paßte, doch das Leinen mit den blauen Streifen war für Carla einfach zu breit geschnitten.
»Du bist dochnaiv«, sagte sie, denn diesen Ausdruck hatte sie erst gestern in einem Roman gefunden, und sie wollte ihn unbedingt verwenden. »Die stecken niemanden ins Gefängnis. Sie erschießen die Leute.«
Dieses Wissen verdankte sie einem Gespräch zwischen Fräulein Brod und Frau Hallgarten, das sie mit angehört hatte. Beide hatten so entsetzt und unglücklich gewirkt, daß sie wußte, sie sollte eigentlich ebenfalls entsetzt und unglücklich sein, aber sie kannte niemanden, der erschossen worden war, und so ging es ihr nicht näher als all die Toten am Ende der Nibelungensage.
»Ich bin nichtnaiv«, entgegnete Robert verärgert, der den Ausdruck ebenfalls kannte. »Wenn hier einer naiv ist, dann bist es du. Ich wette, du weißt überhaupt nichts von den wirklich wichtigen Sachen.«
Sie rümpfte die Nase. Da sie ihre Brille abgesetzt hatte, konnte sie von den Badenden nur die Umrisse erkennen, große, helle Farbflecken mit dunklen Tupfern auf dem Kopf. Aber Annis Lachen und die tiefe Stimme ihres Vaters waren unverwechselbar, also wußte sie, wo die beiden sich befanden. Ihr Vater war in der letzten Zeit oft gutgelaunt; er hatte sogar versprochen, sie wieder ins Theater mitzunehmen, und sie gefragt, ob sie gerne verreisen würde, jetzt, wo Reisen wieder möglich waren.
»Und ich wette, es gibt kein Fach, in dem ich nicht besser bin als du.«
»Da hast du 's. Ich rede doch nicht von Schulkram. Ich wette, du weißt überhaupt nichts darüber, wie ein Mann und eine Frau es tun, oder?«
»Das weiß ich schon längst«, sagte sie rasch, aber Robert, der selbst gut log, war sich diesmal seiner Sache sicher.
»Das glaube ich nicht. Ich glaube, du hast überhaupt keine Ahnung.«
Ihr lag ein »Habe ich doch« auf der Zunge, aber sie hielt es zurück. Es war höchst unangenehm und ärgerlich, aber er hatte recht. Ihre Neugier kämpfte noch einige Momente mit ihrem Stolz und gewann.
»Wenn du soviel weißt, dann sag es doch.«
Er grinste zufrieden, das konnte sie trotz ihrer Kurzsichtigkeit nur zu gut erkennen, und sie nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit mehr herauszufinden, als er gleich erzählen würde. Wenn nötig, dann konnte sie Fräulein Brod erpressen, denn daß Fräulein Brod mit den Kommunisten sympathisierte, die laut ihrem Vater alle Verbrecher waren und von der Polizei eingesperrt wurden, wußte sie längst.
»Was kriege ich dafür?«
»Ich mache deine Mathematikaufgaben«, gestand sie ihm widerwillig zu. Sie mochte Mathematik selbst nicht besonders, aber dank des jahrelangen Unterrichts von Fräulein Brod war sie besser darin als Robert, der sich immer noch weigerte, seine anstehende Rückkehr in die Schule im Herbst ernst zu nehmen, und Fräulein Brod mit seiner Mißachtung aller für ihn uninteressanten Fächer zur Verzweiflung trieb.
»Abgemacht«, sagte er und breitete sein weltliches Wissen gönnerhaft vor ihr aus. Als er fertig war, starrte sie ihn ungläubig an.
»Das ist ja ekelhaft! Du hast da sicher etwas falsch verstanden. So etwas würde doch keiner freiwillig tun!«
»Jeder tut es so«, protestierte er und genoß seine Überlegenheit, bis sie ihn ins Gras stieß und zum Ufer lief. Ihre langen roten Zöpfe flogen hinter ihr her. Er verstand nicht, warum sie sich so sehr aufregte; sie war sonst nicht zimperlich und hatte gerade vorhin sogar eine Schnecke über ihre Hand laufen lassen.
***
Anni dabei zuzusehen, wie sie sich zum Ausgehen am Abend zurechtmachte, bereitete Carla immer wieder Vergnügen. Es lag ein Element von spielerischer Verkleidung und Maske darin; Anni war noch nicht lange genug an Reichtum gewöhnt, um nicht alles ausnutzen zu wollen, was ihr zur Verfügung stand, und sie war zu jung, um es nicht auch ein wenig komisch zu finden.
»Daß ich sie net alle tragen darf«, seufzte sie, während sie ihre Perlenketten anschaute, und dann verbrachten Carla und sie eine lustige Viertelstunde damit, sich soviel Schmuck wie möglich umzuhängen. Anni zeigte dem Mädchen, wie man sich schminkte, blickte in den Spiegel und prustete.
»Jetzt schaun wir aus wie aufm Fasching!«
Carla mochte das Gefühl von Creme auf den Lippen, den Puder und die kühle Tusche unter ihren Augenbrauen. Sie atmete das Parfum ein, das Anni gerade großzügig in der Luft verspritzte, hustete etwas und fragte dann:
»Du, Anni, stimmt es, daß Män