: Fernando Pessoa
: Fernando Cabral Martins, Richard Zenith
: Alberto Caeiro Poesia - Poesie Revidierte und erweiterte Ausgabe (Zweisprachige Ausgabe)
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104033884
: 1
: CHF 10.00
:
: Lyrik
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Álvaro de Campos, Alberto Caeiro, Ricardo Reis - Fernando Pessoa, der größte Dichter Portugals des 20. Jahrhunderts, träumte immer davon, alle Menschen zugleich zu sein. In seinem Werk hat er sich diese Sehnsucht erfüllt: Unablässig erschuf er neue Dichter, schenkte ihnen eine Biographie und schrieb ihnen die unterschiedlichsten Werke zu. Die legendäre Truhe, in der man Pessoas Manuskripte lang nach seinem Tod fand, enthält so das größte Stimmentheater der Weltliteratur, dessen Partitur die neue Pessoa-Ausgabe Band für Band enthüllt. Alberto Caiero (1889 - 1915) schuf nach Pessoa sein Werk während seines kurzen Lebens in völliger Abgeschiedenheit auf dem Land. Eine Tuberkuloseerkrankung, an der er schließlich sterben sollte, hatte ihn dazu gezwungen. Nahezu ohne Vorbildung übersetzte er seine Empfindungen bei der Betrachtung der Natur in zarte Dichtungen, die deren Geheimnis bewahren sollten.

Fernando Pessoa (1888-1935), der bedeutendste moderne Dichter Portugals, ist auch bei uns mit dem »Buch der Unruhe« bekannt geworden. Einen Großteil seiner Jugend vebrachte er in Durban, Südafrika, bevor er 1905 nach Lissabon zurückkehrte, wo er als Handelskorrespondent arbeitete und sich nebenher dem Schreiben widmete. 1912 begann seine Tätigkeit als Literaturkritiker und Essayist. Er schuf nicht nur Gedichte und poetische Prosatexte verschiedenster, ja widersprüchlichster Art, sondern Verkörperungen der Gegenstände seines Denkens und Dichtens: seine Heteronyme, darunter Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Álvaro de Campos - und er schrieb eben auch als Pessoa, das im Portugiesischen so viel wie »Person, jemand« bedeutet.

deutscher Text


Zum portugiesischen Text

Der Hüter der Herden


O Guardador de Rebanhos

I


Nie habe ich Herden gehütet,

Und doch ist es, als hütete ich sie.

Meine Seele ist wie ein Hirte,

Kennt den Wind und die Sonne

Und geht an der Hand der Jahreszeiten,

Folgt ihnen und schaut.

Aller Friede der menschenleeren Natur

Setzt sich mir zur Seite.

Aber ich werde traurig wie ein Sonnenuntergang

In unserer Phantasie,

Wenn es kalt wird in der Tiefe der Ebene

Und man spürt, die Nacht ist gekommen

Wie ein Schmetterling durchs Fenster.

Doch meine Trauer ist Ruhe,

Weil sie natürlich ist und rechtens,

Und genau sie in der Seele sein muß,

Wird sie sich ihres Daseins bewußt,

Und die Hände Blumen pflücken unbemerkt von ihr.

Wie Viehglockenklang

Hinter der Wegbiegung

Sind meine Gedanken zufrieden.

Nur schmerzt mich zu wissen, daß sie zufrieden sind,

Denn wüßt’ ich es nicht,

Wären sie statt traurig-zufrieden

Heiter-zufrieden.

Denken ist lästig wie ein Gang durch den Regen,

Wenn der Wind zunimmt und es stärker zu regnen scheint.

Ich habe weder Ehrgeiz noch Wünsche.

Dichter zu sein ist nicht mein Bestreben.

Es ist meine Art, einsam zu sein.

Und wenn ich zuweilen –

In meiner Phantasie – ein Lämmlein sein möchte

(Oder die ganze Herde,

Um über den ganzen Hang auszuschwärmen

Und viel Glück zugleich zu sein),

So nur, weil ich fühle, was ich bei Sonnenuntergang schreibe,

Oder wenn eine Wolke mit der Hand über das Licht streicht

Und Stille über die Gräser huscht.

Wenn ich mich setze, Verse zu schreiben

Oder, über Wege und Stege wandernd,

Verse auf ein Papier in meinem Denken schreibe,

Spüre ich einen Hirtenstab in den Händen

Und sehe mein Ebenbild

Von einem Hügel

Auf meine Herde schauen und meine Gedanken sehen,

Oder auf meine Gedanken schauen und meine Herde sehen,

Und vage lächeln wie einer, der nicht versteht, was man sagt,

Und so tun will, als ob er verstünde.

Ich grüße alle, die mich künftig lesen,

Und ziehe vor ihnen meinen breiten Hut,

Wenn sie mich an meiner Tür erblicken,

Sobald die Kutsche erscheint auf dem Hügel.

Ich grüße sie und wünsch’ ihnen Sonne

Und Regen, wenn Regen nottut,

Und in ihren Häusern möge

Nahe einem offenen Fenster

Ihr Lieblingsstuhl stehen,

Auf den sie sich setzen und meine Verse lesen.

Und beim Lesen meiner Verse denken,

Ich sei ein Naturding –

Zum Beispiel der alte Baum,

In dessen Schatten sie sich als Kinder

Fallen ließen, ermattet vom Spiel,

Und mit zerrissenem Schürzenärmel

Den Schweiß von der heißen Stirn wischten.

II


Mein Blick ist offen wie eine Sonnenblume …

Ich habe die Gewohnheit, die Straßen entlangzuwandern,

Nach rechts und nach links zu schauen

Und manchmal auch zurück …

Und was ich mit jedem Augenblick sehe,

Habe ich zuvor nie gesehen

Und weiß dies sehr wohl wahrzunehmen …

Ich kenne den Wesensschauder

Eines Kindes, merkte es bei seiner Geburt,

Daß es wirklich das Licht der Welt erblickt …

Ich fühle mich mit jedem Augenblick

Für die ewige Neuheit der Welt geboren …

Ich glaube an die Welt wie an ein Tausendschönchen,

Weil ich sie sehe. Aber ich denke nicht nach über sie,

Denn denken heißt nicht-verstehen …

Die Welt wurde nicht geschaffen, damit wir über sie nachdenken

(Denken heißt augenkrank sein),

Sondern damit wir sie ansehen und im Einklang sind mit ihr.

Ich habe keine Philosophie, ich habe Sinne …

Rede ich von der Natur, so nicht, weil ich weiß, was sie ist,

Sondern weil ich sie liebe, und darum lie