: Leopold Federmair
: Wandlungen des Prinzen Genji
: Otto Müller Verlag
: 9783701362226
: 1
: CHF 16.20
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: Erzählende Literatur
: German
: 310
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der Held dieses Romans erzählt die Geschichte einer Lektüre: Vor einiger Zeit durch Zufall in Japan gelandet, wo er seither lebt, hat er sich den etwa tausend Jahre alten Genji-Roman der Hofdame Murasaki vorgenommen. Was er liest, nötigt ihm Fragen auf: Wie ist es möglich, daß aus einer auf das Erotische und Ästhetische versessenen Gesellschaft ein kaltes, erotikfeindliches Land wurde? Wie ist es möglich, daß an die Stelle einer raffinierten, naturnahen Architektur eine Suppe von unzähligen gesichtslosen Zwecksbauten getreten ist? Wie kann es sein, daß aus der Liebe zu Kirschblüten und Mondnächten Plastikklischees geworden sind? Warum werden in diesem Land immer weniger Kinder gezeugt? Der Erzähler und Leser des Genji-Romans wird sich rasch darüber klar, daß er Antworten nicht in Büchern, sondern nur im Leben finden kann; mithilfe seiner Tochter, deren Wegen und Umwegen er neugierig folgt, sowie einer verschwiegenen Geliebten, deren Handlungsgründe ihm lange rätselhaft bleiben. Mit der Zeit gewinnt er etwas von der verlorenen Zuversicht zurück: Ist die Erotik vielleicht doch nicht ganz aus dieser Gesellschaft verschwunden? Wartet hinter den Wohnblockfassaden ein ästhetisches Land? Federmairs zeitgenössischer und geschichtsbewusster Japan-Roman setzt die Kadenzen seiner Prosa, die Bilder seiner Erzählungen und die Poetik einer verfeinerten Wahrnehmung der scheinbar entzauberten Welt entgegen, die den Alltag der Gegenwart nicht nur in Japan bestimmt.

Leopold Federmair: geboren 1957 in Oberösterreich, besuchte das Gymnasium in Kremsmünster und Wels und studierte anschließend Germanistik, Publizistik und Geschichte an der Universität Salzburg. Er ist als Schriftsteller, Essayist, Kritiker und Übersetzer tätig (u.a. von Michel Houellebecq, Ricardo Piglia, Ryu Murakami). 2011 erhielt er den österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzung. Leopold Federmair lebt in Hiroshima, wo er an der Universität Deutsch unterrichtet.

Ein Tropfen in der Luft

Mit dem Zug nach Miyajimaguchi gefahren, eine gute Stunde auf der Sanyo-Strecke, in einem der Waggons, die seit fünf oder sechs Jahrzehnten eingesetzt werden. Sogar unter den Shinkansen-Waggons gibt es inzwischen fünfzigjährige, man merkt es an den Blümchentapeten und den aus der Mode gekommenen Speisewagen, wo eine Silberkette vor dem Eingang zur Küche baumelt. Naomi, meine Tochter, hat vor kurzem ihre Bewunderung für Lokführer und Schaffner entdeckt. Ich hebe sie zum Glasfenster an der Vorderseite des ersten Waggons, damit sie das Armaturenbrett sehen kann, den Hebel, der zum Beschleunigen und Verlangsamen dient, den Arm und die Hand des Fahrers und manchmal, wenn er sich nach vorn beugt, um mit majestätischer Geste auf ein Ampellicht draußen oder die Zeittabelle herinnen zu deuten, das Profil seines Gesichts. Die Präzision und die ernste Formvollendung, die er dabei walten läßt, sind dieselben wie auf den Hochgeschwindigkeitsstrecken. Daß diese alten Gefährteüberhaupt so lange erhalten und funktionstüchtig bleiben, verdanken sie der Sorgfalt, mit der sie behandelt, gepflegt und gewartet werden. Japan ist das Land der technischen Innovation, aber auch das Land der Bewahrung derüberkommenen Dinge…

So beginne ich unwillkürlich, von der Gegend hier als von einem„Land“ zu schreiben, das es ja auch ist. Man lächelt in diesem Land, oft zwanghaft und starr, und weiter unten, wo das Land endet, in den Buchten und auf den Inseln, blühen im Winter die Zitronen. Zugleich denke ich an Argentinien, die andere Heimat, wo ebenfalls noch die alten Züge fahren, aber mit Fenstern und Türen, die nicht schließen, und Stillständen aus„technischen Gründen“, die mitunter einen lieben langen Tag dauern können, und Lokomotiven, deren Bremsen bei der Einfahrt in den Bahnhof versagen.

(Auch zwischen Hiroshima und Miyajima habe ich einmal eine Triebwerkspanne erlebt. Ich stieg in eine Straßenbahn um, die sich bis auf den letzten Kubikzentimeter mit Menschenleibern füllte, und war trotz der Widrigkeiten zufrieden, daß einmal etwas nicht funktionierte in diesem wie geschmiert funktionierenden Land.)

Die Gondel, in der wir später auf den steil ansteigenden, dicht bewaldeten Inselberg fuhren, hatte etwa dasselbe Alter wie der Waggon auf der Sanyo-Strecke. Trotz meiner Höhenangst fühlte ich mich in dem kleinen, dünnschaligen, lichtdurchfluteten Gebilde geborgen. Ja, vielleicht, so wage ich zu hoffen, hat mich, seit ich stets das Wohlergehen meiner Tochter im Sinn habe, die Angst verlassen. Ei- oder tropfenförmig, die Gondel. Großer Tropfen, auf der Rückfahrt von zahllosen kleinen besprüht, die Fensterscheiben beschlagen, tief unter uns das dichte Grün, vielfarbig trotz des grauen Himmels, und die wenigen, kaum ahnbaren Silhouetten der Inseln in der sogenannten Inlandssee, die sich unter dem Dunstschleier verbirgt. Wir zwei in einer kleinen Blase in den Lüften, von Wassertröpfchen umschirmt: Wollustgefühl, das auch Naomi erfaßte, wie ich an ihren Bewegungen und Gesten erkannte.

Unten angekommen, legte ich sie in den Kinderwagen, und bald darauf, noch im Waldgebiet, schlief sie ein. Ich stellte den Wagen in einem Hain ab, auf einem kleinen, von Ahornlaub und Kiefernzweigenüberdachten Platz, den ein paar Holztische und -bänke säumten. Es war dies, wie ich bei genauerem Hinsehen bemerkte, ein vorzeiten künstlich eingerichteter, hergerichteter, aus der Natur herausgenommener und auch wieder in sie hineingebetteter Ort; ein Ort der Rast, der Besinnung, der Stille; einer Stille, die sich aus dem Rauschen des nahen Wasserfalls, dem Blättersäuseln, dem Vogelgezwitscher, dem Knistern der von Blatt zu Blatt fallenden Tropfen und auch, ja, der Menschenschritte und Menschenstimmen zusammensetzte. In der Nähe befand sich ein Ryokan, ein Gästehaus alten Stils, und im Hang neben dem Wasserfall war, auf große, eigensübereinandergeschichtete, moosbewachsene Steine gestützt, ein kleineres Haus, das man für eine Teehütte hätte halten können, wären da nicht die Glasfront zum Wasserfall hin und die mit edlem Tuch bezogenen Fauteuils westlichen Stils gewesen. Die Ahorn- und, in einem anderen Abschnitt, Kirschbäume trugen wesentlich z