Einleitung
Wenn man die Geschichte des Deutschen Reichs gewissermaßen durch ein Fernrohr betrachtet, dann fallen sofort drei Sonderbarkeiten auf.
Die erste davon ist die kurze Lebensdauer dieses Reichs. Es hat ja als handlungsfähige Einheit nur 74 Jahre bestanden: von 1871 bis 1945. Selbst wenn man großzügig ist und sein Vorstadium, den Norddeutschen Bund, dazurechnet und hinten die kurze Zeit addiert, in der die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges Deutschland noch als Einheit verwalten wollten, kommt man im ganzen nur auf 80 oder 81 Jahre, 1867 bis 1948 – die Dauer eines Menschenlebens. Für die Dauer eines Staatslebens ist das ungeheuer wenig. Ich wüßte eigentlich kaum einen anderen Staat zu nennen, der so kurze Zeit existiert hat.
Zum zweiten fällt auf, daß während dieser sehr kurzen Lebensdauer das Deutsche Reich mindestens zweimal, 1918 und 1933, aber eigentlich dreimal, nämlich auch schon 1890, seinen inneren Charakter und die Richtung seiner Außenpolitik vollkommen geändert hat. Innerhalb dieser 80 Jahre also vier Perioden, die sich ganz deutlich voneinander unterscheiden und in denen, wenn man so will, Deutschland jedesmal ein anderes Deutschland wurde.
Die dritte Auffälligkeit schließlich besteht darin, daß diese so kurze Geschichte mit drei Kriegen begann und mit zwei ungeheuren Kriegen, Weltkriegen, endete, von denen sich der zweite aus dem ersten mehr oder weniger ergab. So ist die Geschichte des Deutschen Reiches fast eine Kriegsgeschichte, und man könnte versucht sein, das Deutsche Reich ein Kriegsreich zu nennen.
Man fragt sich natürlich, woran das alles liegt. Waren die Deutschen denn kriegerischer als andere Völker? Das würde ich nicht sagen wollen. Wenn man ihre Geschichte als Ganzes nimmt, also doch etwas über tausend Jahre, dann haben sie eigentlich bis zu Bismarcks Zeit sehr wenig Kriege und kaum Angriffskriege geführt. Deutschland lag seit Beginn der Neuzeit in der Mitte Europas als eine Art große, vielgestaltige Pufferzone, in die andere oft hineinwirkten, in der es auch große innere Auseinandersetzungen gab: den Schmalkaldischen Krieg, den Dreißigjährigen Krieg, den Siebenjährigen Krieg … Doch diese internen Streitigkeiten haben nicht aggressiv nach außen gewirkt, wie es das Deutsche Reich jedenfalls in unserem Jahrhundert zweimal getan hat und woran es zugrunde gegangen ist.
Woran ist es denn eigentlich zugrunde gegangen? Warum wurde es, was von seinem Gründer Bismarck nicht beabsichtigt war, ein ausgreifender, aggressiver Staat? Darüber gibt es verschiedene Theorien. Ich finde sie alle nicht sehr überzeugend.
Eine davon schiebt alles auf Preußen. Das Deutsche Reich wurde ja durch Preußen gegründet. Und gemeint war es, jedenfalls von seinem Gründer, durchaus als eine Art Groß-Preußen, als Vorherrschaft Preußens in Deutschland. Wobei ja gleichzeitig auch schon die erste deutsche Teilung stattfand: Österreich wurde aus Deutschland ausgestoßen. Ist Preußen also an allem schuld? Wäre alles besser gegangen, wenn Deutschland 1848 in der Frankfurter Paulskirche auf demokratischer Basis gegründet worden wäre?
Merkwürdigerweise nicht. Das Paulskirchen-Parlament war keineswegs in seiner äußeren Politik friedlich gesinnt – obwohl viele das glauben. In Wirklichkeit hat die Paulskirche sogar gle