EINS
Jims erster Hinweis darauf, dass er besser auf die nächste U-Bahn gewartet hätte, war der Totenkopf, der den Zug steuerte.
Aber nein, das stimmte nicht, oder? Weil es schon viel früher anfing. Und zwar, als Jim das Foto in Händen hielt. Als er das Bild von seinen beiden Mädels ansah und sich wünschte, nicht mit ihnen gestritten zu haben.
Maddie sah ihre Mutter an, sah Carolyn an, und beide lächelten, als hätten sie nicht die geringste Sorge, als gäbe es keine Krankheiten, keine Rechnungen und nicht einmal einen gelegentlichen Engpass beim Nachschub ihrer geliebten gezuckerten Frühstücksflocken. Nur sie. Nur Liebe.
Keine Familienstreitereien. Keine zornigen Worte. Keine Missverständnisse. Keine Gewissensbisse.
Dann roch Jim es. Er roch es, bevor er es sah.
Der Geruch kam ihm süßlich vor. Aber nicht angenehm. Süßigkeiten waren, wie einem jedes Kind mit Halloween-Erfahrung sagen konnte, bis zu einem gewissen Punkt ganz toll. Aber danach fand man sie widerlich. Und tatsächlich wurde Jim sofortübel, als ihm derüberwältigende Geruch von Kaugummi, Lutschern, Fruchtbonbons, Jelly Bellys, M&Ms und Hunderten anderen Süßigkeiten, die er nicht genau definieren konnte, in die Nase stieg.
»Hübsch«, sagte die Stimme.
Jim wandte sich in ihre Richtung. Er spürte, wie er angesichts der widerlichen Süße die Nase rümpfte und die Mundwinkel verzog. Er versuchte, es zu verhindern, schaffte es aber nicht. Manche Kämpfe ließen sich nicht gewinnen, manche Gefühle nicht verbergen, nicht einmal von jemandem, der damit so vielÜbung hatte wie er.
»Wie bitte?«, fragte er. Und sein Mund war immer noch verkniffen, und zwar so stark, dass es sich weniger anhörte, als wollte er sich dafür entschuldigen, den Mann nicht verstanden zu haben, sondern mehr wie eine Drohung. Als sei er drauf und dran, dem Sprecher eine zu verpassen.
Vielleicht stimmte das sogar.
Auf den Reisen durch sein Leben hatte Jim festgestellt, dass es nur wenige gab, ein paar ganz wenigePechvögel, die bei anderen sofort an Hass grenzende Abscheu hervorriefen. Und der bucklige Mann neben ihm mit den Frettchenaugen und der Halbglatzeübte genau diese Wirkung auf ihn aus. Er trug einen Trenchcoat, die Berufskleidung der Pädophilen und Exhibitionistenüberall auf der Welt, und Jim nahm unwillkürlich die eigenartigen Flecken darauf zur Kenntnis. Sie ließen den Mantel an manchen Stellen eher braun als beige aussehen. Der unscheinbare Mann wirkte wie 35, obwohl er die typische Halbglatze mit dem nachlässigüber die Stirn gekämmten Resthaar eines Mannes um die 50 hatte. Bei manchen Leuten ließ sich das Alter schwer schätzen.
»Ich sagte, sie ist hübsch«, erklärte der Mann. Er aß irgendeine knallbunte Süßigkeit und hielt einen violetten, halb aufgegessenen Lutscher in der klebrig wirkenden Hand.
Jesses, dachte Jim,dieser Kerl bettelt förmlich um Diabetes.
Dann merkte er, dass der Kerl immer noch auf sein Foto starrte. Auf seine Mädels. Auf Carolyn.
Auf Maddie.
Maddie war erst sieben und das Bild ziemlich winzig. Der Blickrichtung des Mannes ließ sich nicht entnehmen, wen von den beiden er anglotzte. Carolyn war ein Hingucker, keine Frage. Deshalb würden sich die meisten normalen Kerle an der Mutter auf dem Bild aufgeilen.
Aber nicht dieser Kerl. Nein. Jims Nackenhaare sträubten sich. Er hatte Erfahrung mit solchen Typen. Er wusste Bescheid. Er konnte es einfacherkennen.
Er zog das Bild langsam von dem Mann weg. Langsam. Als habe er gerade festgestellt, dass er nackt und mit einem blutigen Fleischstück in der Hand vor einem hungrigen Löwen stand.
Die Augen des Mannes folgten der Aufnahme hungrig. Er stopfte sich den Lutscher in den Mund.»Hübsch«, murmelte er an der Süßigkeit vorbei und lutschte dann schmatzend weiter, während Jim das Bild in das kleine Tagebuch legte, das er immer bei sich trug. Er schob es in die Tasche. Eng, aber es passte hinein.
»Danke«, antwortete Jim. Er versuchte es auf eine Weise zu sagen, die so etwas besagte wie:»Nehmen Sie’s nicht persönlich, aber lassen Sie mich verdammt noch mal in Ruhe.«
Sein neuer Freund schien es nicht zu kapieren. Der Mann grinste mit Lippen, auf denen der Lutscher kadaverblaue Flecken hinterlassen hatte, und streckte dann die Hand aus.»Fred«, sagte er.»Fred Piper, aber alle nennen mich einfach nur Fred– Freddy genau genommen.«
Die Luft, aufgrund des durchdringenden Gestanks nach Süßigkeiten ohnehin kaum noch atembar, schien beinahe giftig zu sein. Jim bekam das Gefühl, er müsse jeden Moment umkippen. Nur die Vorstellung, dass Fred-Piper-Fred-Freddy-genau-genommen seine Taschen durchwühlte, um das Bild aus dem Tagebuch zu holen, hielt ihn davon ab, vor lauterÜbelkeit ohnmächtig zu werden.
Es gelang ihm, sich auf den Beinen zu halten, aber darüber hinaus wusste er nicht, was er machen sollte.
Jim sah sich um. Es war noch früh, also standen kaum andere Leute bei ihnen auf dem Bahnsteig.
Am dichtesten stand eine umwerfend gut aussehende Frau mit dunklen Haaren. Sie hielt einen Rucksack aus Leder in der Hand und trug teure Kleidung und 400-Dollar-Stiefel mit hohen Absätzen. Sie kam ihm vor wie eine dieser sündhaft teuren Anwältinnen aus Manhattan, die als Gegenleistung für ihr Recht, sich aufzuspielen, eine kleine Wohnung und die Hoffnung, eines Tages in die Kanzlei einzusteigen, zu den unmöglichsten Zeiten arbeiteten. Und natürlich für diese Stiefel. Total unpraktisch im Winter, aber sie stanken nach Geld. Jim wusste, dass das manchen Leuten wichtig war.
Ein Stück weiter stand ein Schwarzer mit Stiernacken, dessen dunkler Pullover und Winterjacke nicht ganz die Gang-Tattoos verbergen konnten, die sich an seinem Hals hochschlängelten, bevor sie unter der dicken Wollmütze verschwanden, die den größten Teil seines Kopfs bedeckte. Ganz zu schweigen von den vier schwarzen, direkt unter dem rechten Auge eintätowierten Tränen. Von der Arbeit wusste Jim, was sie zu bedeuten hatten: eine Träne für jeden bestätigten»Abschuss«: dasÄquivalent für ein»X« auf der Seite eines Jagdflugzeugs im Zweiten Weltkrieg.
Allerdings war der Krieg, in dem dieser Mann gek