: Rüdiger Görner
: Georg Trakl Dichter im Jahrzehnt der Extreme
: Paul Zsolnay Verlag
: 9783552057111
: 1
: CHF 17.20
:
: Biographien, Autobiographien
: German
: 352
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs starb Georg Trakl in einem Militärspital an einer Überdosis Kokain. Ob der im Krieg traumatisierte Dichter Selbstmord beging, ist eines der Rätsel, die sein Leben und Werk umgeben. Rüdiger Görner gelingt es, sich den biographischen Brüchen und Details über das Werk anzunähern. Er geht in der Auseinandersetzung mit den Gedichten der Todessehnsucht Trakls, der mehr als innigen Beziehung zu Schwester Margarethe und dem Aufwachsen in Salzburg nach. Und kommt zu faszinierenden Schlüssen: Dass sich die Extreme der Zeit - die Beschleunigung der Lebensverhältnisse, ihre rücksichtslose Technisierung - im Werk des Dichters bedingt spiegeln. Und dass die Gedichte - Trakls Ruhelosigkeit zum Trotz - oft geradezu ausgeruht klingen.

Rüdiger Görner, geboren 1957 in Rottweil, Emeritus Professor für Neuere deutsche Literatur mit Vergleichender Literatur- und Kulturwissenschaft der Queen Mary University of London. Er gründete 2001 das Ingeborg Bachmann Centre for Austrian Literature an der University of London sowie 2005 das Centre for Anglo-German Cultural Relations. Bei Zsolnay erschienen 2004 »Rainer Maria Rilke. Im Herzwerk der Sprache«, 2014 Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt der Extreme, 2018 Oskar Kokoschka. Jahrhundertkünstler und 2024 Bruckner. Der Anarch in der Musik.

Vorworthafter Dreiklang


Tagebucheintrag


Wien, den 19. Juni


Abends in Christoph Starks Trakl-FilmTabu– Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden; habe mich dann in dieser lauen Juni-Nacht bis zum Judenplatz treiben lassen, wo ich in einem fast leeren Schanigarten diese Zeilen notiere.

Es regnete viel in diesem Film; es goss in Strömen. Entsprechend tropfnass sind die strähnigen Haare Georgs (Lars Eidinger) und Gretes (Peri Baumeister). Der Film hätteG&G heißen sollen, handelt er doch von Geschwistern, die von der Ausweglosigkeit ihrer Liebe zueinander vergewaltigt werden. Die Hauptrolle im Film hat der Inzestübernommen– umflort von farbgesättigten Bildern.

Aus dem Drogenrausch der Geschwister entsteht ein filmischer Bilderrausch zwischen Bürgersalon und Gosse, bedrückenden Stadtszenen und scheinbar befreiender Natur. Ich denke unwillkürlich an Jane Campions Filmüber John KeatsBright Star (2009): Gezeigt wird darin das Dichten als wahnhafter Leidensprozess. InTabu korrigiert die Schwester die Manuskripte des Bruders. Im Keats-Film dagegen haben sich die Verse des Dichters bereits in einen Bereich jenseits aller Korrektur begeben.

Überhaupt ist mittlerweile das Schreiben zu einem Filmthema geworden. Die Kamera konzentriert sich auf Feder und Tintenklecks sowie den schwarzen Schreibfinger im FilmBecoming Jane (2007), in dem Anne Hathaway die beständig schreibende Jane Austen spielt, oder inShakespeare in Love (1998), in dem Joseph Fiennes als William die Feder stets in Bereitschaft hält, wenn ein gewisser Blick Worte auf dem Papier auslöst.

Lars Eidinger gibt einen Trakl, der phasenweise fieberhaft schreibt und streicht, als jage ihn die Sorge, bestimmte Worte nicht aufs Papier werfen zu können, auch wenn er ansonsten erstaunlich wenig Angst zeigt; er wirkt, wenngleich zuweilen am Rande von Gewaltausbrüchen, immer im Vollbesitz seiner Selbstkontrolle. Vergisst man, dass Eidinger Trakl sein soll, dannüberzeugt er. Anders Peri Baumeister als Grete; sie ist das Wunder einer Verkörperung, gerade weil man von der authentischen Grete (aber was ist das schon!) zu wenig weiß. Ihr genialisches Klavierspiel sieht sich nur nochübertroffen durch die kurzen Hörproben von ihrer eigenen Musik, die an Skrjabin erinnert. Ja, sie ist, was sie sein soll: unwiderstehlich. Unglaubwürdig wirkt sie nur an der Stelle im Film, wo sie ihrer hartherzigen Mutter vorwirft, nicht schon viel früher gegen die inzestuöse Beziehung zwischen ihr und Georg, von der sie gewusst habe, eingeschritten zu sein.

Die Bilder bleiben, ihr Sinn verflüchtigt sich.Über dem Schanigarten setzt Nieselregen ein. Er wird nicht ausreichen, das Haar tropfnass werden zu lassen.

Wien, tags darauf (Hotel Regina)


Wiederholt spielen sich einige Filmszenen des gestrigen Abends in mir ab. In einem hatte der Film recht: Trakl lebte nur, wenn er schrieb. Und er schrieb nur, wenn er Gedichte verfasste. Ansonsten schien er zu vegetieren, sich treiben zu lassen oder ins Wahllose getrieben zu sein.

Ganz in der Nähe: Freuds Berggasse, woTotem und Tabu entstand und der Satz:»Das Tabu heißt uns einerseits heilig, geweiht, anderseits: unheimlich gefährlich, verboten, unrein.«1 Erschienen 1913. In jenem Jahr war Trakl zwei-, dreimal in Wien, hatte Umgang mit Karl Kraus, Adolf Loos, Peter Altenberg und Oskar Kokoschka. Und in jenem Gedicht, dem der Band seinen Titel entlehnte,»Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden«, rief er zweimal aus:»Reinheit! Reinheit! Wo sind die furchtbaren Pfade des Todes, / Des grauen steinernen Schweigens, die Felsen der Nacht / Und die friedlosen Schatten? Strahlender Sonnenabgrund.«2 Da sind sie, die extremen Gegensätze, die nur eine Vermittlung kennen: den Klang, den Rhythmus, der auch dann magisch bleibt, wenn er, wie hier, gebrochen wird durch Ausrufe und Fragen, die im Ton an Hölderlin erinnern– nicht an den Analytiker Freud.

Man kennt die lustvollen Tabubrecher in der Literatur um 1900 von Frank Wedekind bis Heinrich Mann, Arthur Schnitzler, Oskar Kokoschka, Egon Schiele und in der Musik die»Zwölftöner«.3 Und Trakl? Brach er mit Tabus? Oder spielte er mit ihnen oder sie mit ihm– Katz und Maus? Das Ringen um Reinheit, die Ahnung des Heiligen– beides ist so gegenwärtig in seinen Gedichten wie der strahlende oder in Dunkelheit versinkende Abgrund, die Gosse, die Verelendung der Seele.

Trakl in der Berggasse– wie hätte er sich verhalten, wäre er Freuds Patient geworden? An analysebedürftigen Träumen hatte es ihm ja nicht gemangelt; zumindest seinen Gedichten nicht. Vielleicht hätte er einfach stumm auf der Couch gelegen und Freud dann und wann ein Gedicht ins Schweigen gereicht. Vielleicht…

Ein knappes Jahrzehnt lyrischer Produktivität, ein Jahrzehnt voller Extreme in Kultur und Politik, im Gesellschaftlichen undÖkonomischen: Historismus wie hier im Hotel Regina contra Sezession am anderen Ende der Ringstraße, die Zeitverhältnisse verschleiernde Neoromantik contra Analyse der modernen Psychosen. Trakl weilt in Salzburg, die Auflösun