: Alfred Döblin
: Die Pilgerin Aetheria Fischer Klassik PLUS
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104030135
: 1
: CHF 6.50
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 190
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Döblins späte Erzählung über Verbrechen und Strafe ?Die Pilgerin Aetheria?, zwischen 1947 und 1949 entstanden, führt zurück in die Zeit der Christenverfolgungen im 5. Jahrhundert. Erzählt wird die Geschichte einer italienischen Bäuerin, die vor der Frage steht, ob sie den Mord an ihrem Mann rächen oder dem Mörder vergeben soll ... Mit einem Nachwort von Marion Schmaus

Alfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, arbeitete zunächst als Assistenzarzt und eröffnete 1911 in Berlin eine eigene Praxis. Döblins erster großer Roman erschien im Jahr 1915/16 bei S. Fischer. Sein größter Erfolg war der 1929 ebenfalls bei S. Fischer publizierte Roman ?Berlin Alexanderplatz?. 1933 emigrierte Döblin nach Frankreich und schließlich in die USA. Nach 1945 lebte er zunächst wieder in Deutschland, zog dann aber 1953 mit seiner Familie nach Paris. Alfred Döblin starb am 26. Juni 1957.

Teil IIJerusalem


Heimkehr


In Neapel steigt sie an Land. Auf dem Gütchen arbeitete ihr Bruder als wäre nichts geschehen.

Langsamen Schrittes an Valerios Grab.

Sie schüttete die Blumen, die sie in beiden Armen trug, über den Hügel. Sie wirft sich selbst auf den Hügel. Sie bittet ihn um Verzeihung, beschuldigt die anderen und gelobt ihm, ihn nicht im Stich zu lassen. Er sei nicht verloren, so lange sie lebe.

»Ich war in Rom. Ich komme aus Rom. Ich habe noch nicht unser Häuschen betreten. Dies ist mein erster Gang, Valerio, mein Geliebter, – zu dir. Deine Aetheria ist hier. Hörst du mich? Ich bin ganz dicht bei dir, geliebtes Gesicht, geliebter Mund, geliebte Hände.

Ich war in Rom. Verzeih mir. Es war unser einziger Streit, daß ich zu den Christen ging, und du wolltest nicht. Du hattest recht. Ihr Gott hat sich meiner nicht erbarmt. Sie versprechen so viel, ich war so kindisch, es zu glauben. Schwach hat mich ihr Gott gemacht. Ich muß mich vor ihm retten. Ich will nichts mehr von ihm wissen, ich kenne ihn nicht mehr, Valerio, sei gewiß. Nichts trennt uns.«

Während Aetheria, die junge Bäuerin, auf dem blumenbestreuten Hügel liegt und sich mit ihrem toten Mann ganz aussöhnt, steht ein Bote Gottes, ein himmlischer Engel, ihr Schutzengel, hinter ihr und schweigt.

Er beugt sich über Aetheria und berührt ihre Schulter.

Es sind aber Engel unsichtbare Geschöpfe Gottes. Sie brauchen sich nicht mit einem Körper zu beladen.

Es ist müßig, ihre Leichtigkeit zu beschreiben und zu sagen, daß sie leichter sind als Federn oder Luft.

Sie sind wahrhaftig gewichtslos.

Und weil uns nur Menschen und Bilder aus unserer Erfahrung zur Verfügung stehen, können wir auf keine Weise richtig sagen, wie sie sind.

Aber weil sie sind, soll man sich trotz aller Schwierigkeiten bemühen, für ihr Handeln und für ihr Verhalten Worte unserer Sprache und Bilder, die sie spiegeln, zu finden.

Sie tauchen auf, es ist uns eine Stimmung, ein Gesicht,

Sie verschwinden,

Sie überlassen uns uns selbst.

Ein anderes Gesicht,

Eine andere Stimmung.

Wir glauben,

Das sind wir,

Nur wir, –

Aber wer sind wir ohne sie?

 

 

 

Matt stand Aetheria vom Grabe auf und trocknete sich das Gesicht. Sie war besänftigt.

Klarheit und Sicherheit fühlte sie in sich.

Es war eine andere Klarheit und Sicherheit in ihr, als sie wußte.

Die Monate vergehen – die Jahre vergehen


Es hat dann Aetheria, von ihrer Pilgerreise zurückgekehrt, auf ihrem kleinen Gut neben ihrem Bruder gelebt und gearbeitet.

Die Monate vergehen.

Die Jahre vergehen.

Sie wird ernster und gleichmäßiger. Ihre Schönheit bleibt. Sie wird eine andere Schönheit. Der Wohllaut ihrer Stimme bleibt. Es wird ein anderer Wohllaut.

Sie hat wie viele andere im Ort draußen auf dem Friedhof einen Toten. Es ist ihr Mann. Sein Grab wird gepflegt und geschmückt.

Sie war