: Alfred Döblin
: Schicksalsreise Fischer Klassik PLUS
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104030142
: 1
: CHF 14.00
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 480
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Döblins bewegendes Zeugnis aus dem Exil Frankreich, Spanien, Portugal, Amerika - mit großer erzählerischer Kraft schreitet Döblins ?Schicksalsreise? die Orte des Exils ab und gibt uns eine Vorstellung von Verfolgung, Ungewissheit und Verlust. Exil - das ist für Döblin die Erfahrung radikaler Kontingenz. Halt bietet ihm dabei die christliche Religion, aber auch das Schreiben dieses für die Nachwelt so wichtigen Buchs. Mit einem Nachwort von Susanne Komfort-Hein

Alfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, arbeitete zunächst als Assistenzarzt und eröffnete 1911 in Berlin eine eigene Praxis. Döblins erster großer Roman erschien im Jahr 1915/16 bei S. Fischer. Sein größter Erfolg war der 1929 ebenfalls bei S. Fischer publizierte Roman ?Berlin Alexanderplatz?. 1933 emigrierte Döblin nach Frankreich und schließlich in die USA. Nach 1945 lebte er zunächst wieder in Deutschland, zog dann aber 1953 mit seiner Familie nach Paris. Alfred Döblin starb am 26. Juni 1957.

Teil IIGestrandet


4. KapitelIm Flüchtlingslager


Vornotiz über Beziehungswahn

Ehe ich meinen Bericht fortsetze, will ich mich über einen Punkt aussprechen. Diese Geschichte, ich sagte es im Beginn, ist kein bloßer Bericht von mehr oder weniger belangvollen Ereignissen aus dem Sommer1940. Ich würde diese Vorkommnisse nicht erzählen, wenn sie nicht einen besonderen Charakter trügen, einen in gewisser Weise unheimlichen und aufwühlenden. Worin liegt er: Was soll an den Dingen unnormal sein?

Daß man sich im Krieg verfehlt? Aber man tut es schon im Frieden. Und es ist eigentlich wunderbarer, wenn man sich im Krieg trifft, als wenn man sich verfehlt. Man bedenke: Die Post funktioniert nicht, die Eisenbahn fährt nicht, oder wenn, dann ohne Fahrplan. Dazu hat jeder jetzt einen andern Wohnsitz. Also wie soll man sich treffen. Wieviel muß zusammenkommen, um das Wunder zu ermöglichen, daß sich im Krieg zwei Leute treffen, die sich von entfernten Punkten Frankreichs aufeinander zu bewegen. Aufeinander ist schon zu viel gesagt. Sie marschieren eigentlich ins Blaue, auf die bloße Vermutung hin. Natürlich laufen sie aneinander vorbei.

Der Autor – ich will von mir selbst als von einem andern sprechen – scheint darüber zu stolpern, daß seinem Lager gegenüber an der Chaussee ein Plakat hinge: »16. Mai. Cirkus ohne Bluff.« Und der16. Mai war grade der Tag, an dem ihn die erste Schreckensnachricht erreichte und er die Feder zum Schreiben hinlegte. Nun, er muß sich nicht an dem Plakat stoßen. Möglicherweise hingen da noch andere Plakate, und er suchte sich, weil er sich unaufhörlich mit seinem Malheur beschäftigte, grade dieses aus, das »einschlägig« schien. Vielleicht hing nebenbei noch eins von einer Dampfwäscherei oder eins, das die Eröffnung einer neuen Schlächterei anzeigte. Die Schlächterei hätte er dann auch symbolisch genommen, als Hinweis auf den Krieg. Sogar die Wäscherei hätte er irgendwo untergebracht. Warum sollte schließlich an dem Zaun nicht ein Plakat vom16. Mai hängen? Der Cirkus wird wirklich da gewesen sein. Oder glaubt der Autor, man habe das Plakat mit Rücksicht auf ihn hier hingehängt und hängen lassen, in Voraussicht seiner Ankunft und um ahnungsschwer auf seinen16. Mai hinzuweisen, wenn er dann, der Autor, hier eines Tages auftauchen und sich im Lager vergraben wird? Welch verrückter, lächerlicher Gedanke. Wer soll nach dem16. Mai planmäßig verhindert haben, daß das Plakat abgerissen oder vom Regen abgelöst werde, damit – es da Ende Juni hinge, um den Autor tief bedeutungsvoll anzuhauchen? Wer soll das ganze Arrangement getroffen und alles vorausgesehen haben?

Und übrigens: was ergibt sich für den Autor aus der ganzen weitläufigen Prozedur? Er gräbt sich in dem Lager ein und ist verstimmt. Das wäre er wahrscheinlich auch ohne das Plakat gewesen. Und man kann wirklich nach so vieler vergeblicher Anstrengung nicht bei guter Laune bleiben. Der Aut