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Nina ist das Zeichen, dass Samuel es zu etwas gebracht hat. Wie gut ihr das schwarze Spitzenkleid steht, und diese Ausstrahlung! Die langen Haare fallen ihr offenüber ihre nackten Schultern, sie ist das Beste, was das Leben Samuel geschenkt hat. Das soll Samir ruhig wissen und sehen. Zwanzig Jahre ist sie mit ihm zusammengeblieben, und immer noch ist sie so schön, was für ein Anblick, ja, sieh sie dir nur an. Mit den einfachsten Mitteln hat sie sich ihre Schönheit bewahrt. Sie ist gewieft: Jeden Morgen, wenn die großen Kaufhäuser ihre Türenöffnen, oder manchmal auch in der Mittagspause, wenn die Touristen sie erstürmen und die Verkäuferinnen zwischen den Regalen umherflattern, von Duftwolken umgeben und weiße Papierstreifchen schwenkend, bedient Nina sich in den Kosmetikabteilungen bei den Testern, dieüberall herumstehen: Antifaltencreme, Augenkonturcreme, Hautserum, Make-up-Grundierung, Wimperntusche, Parfüm– sie sucht sich immer die teuersten Marken aus, fragt nach Pröbchen, gibt sich als potentielle Kundin aus. Auf diese Weise hat sieüber Jahre hinweg, ohne auch nur einen Cent auszugeben, ihre Haut gepflegt und die teuersten Düfte getragen. Zum Haareschneiden ging sie regelmäßig als Modell in eine Friseurschule, wo die Auszubildenden die neuesten Trendfrisuren an ihrübten. Manchmal ließ sie sich auch bei den afrikanischen Friseuren in der Nähe der Porte de la Chapelle für ein paar Euro die Haare zu einem langen glänzenden Zopf flechten, den sie wie eine Fürstenkrone auf dem Kopf trug.
Samir hat sich mit ihnen im Bristol verabredet. Er hat Nina bei seiner Ankunft auf dem Flughafen angerufen, und sie hat ihn vorgewarnt: Ja, sie kommt, aber mit Samuel.Kein Problem.
Nina und Samuel nehmen erst den Bus, dann den Vorortzug, sie fallen auf und ernten Pfiffe–Fahren Sie etwa nach Cannes zum Festival? Sie lachen. Nina stöckelt, an Samuels Arm geklammert, angestrengt auf zehn Zentimeter hohen Absätzen einher,ich will, dass sie auf dich aufmerksam werden, du solltest dir immer so eine Frisur machen. Eine ganze Stunde hat sie gebraucht, um sich die Haare zu glätten, dann ab zur Maniküre, bordeauxrote Fingernägel, geschminkt hat sie sich selbst, dezent, ihrem Alter entsprechend, nicht ordinär. Samuel drückt sie an sich und denkt: Meine Frau. Sein Besitzerstolz hat schon leicht pathologische Züge. Er stellt Nina wie eine Trophäe zur Schau und stärkt dadurch sein Selbstvertrauen, das ist kindisch und ein bisschen erbärmlich. Er hat nichts Besseres gefunden, womit er sich gegen die Resignation zur Wehr setzen könnte, allein Nina verdankt er seinen Status, er ist von ihr abhängig, ohne sie ist er ein Niemand. Zu dieserÜberzeugung ist er in den gemeinsam verbrachten Jahren gelangt. Wenn sie geht, sterbe ich, wenn sie geht, bringe ich mich um, denkt er oft. Er weiß es, er sagt es ihr, und trotzdem geht er jetzt bewusst das Risiko ein, sie zu verlieren. Er setzt sie der Gefahr aus, spielt mit dem Feuer, stellt sie auf die Probe. Kamikaze.
Als sie die Rue du Faubourg Saint-Honoré erreichen, ist es noch zu früh. Nina schlägt vor, ein paar Schritte zu gehen, Samuel will lieber durch die Geschäfte schlendern, sich in den Auslagen umsehen und wieder hinausgehen, ohne etwas gekauft zu haben, er will das Vergnügen auskosten, begrüßt, hofiert, an Ninas Seite gesehen zu werden, und bittet sie, in einer Luxusboutique ein Kleid mit einem schwindelerregenden Ausschnitt anzuprobieren. Unter den Augen der schmunzelnden Verkäuferin29 bringt er ihr mehrere Kleidungsstücke selbst zur Umkleidekabine. Mit den Worten»Wir kommen zurecht« wimmelt er die Frau ab, und als sie gegangen ist, schlüpft er in die Kabine. Nina steht in Unterwäsche da und stößt einen Schrei aus,du bist ja verrückt, wenn uns jemand sieht, aber genau darum geht es ihm, er will gesehen werden. Er zieht den Vorhang zu und küsst sie.»Du bist verrückt.«–»Ja, ich bin verrückt nach dir.«
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Samir hat kein Lampenfieber, wenn er im Fernsehen oder vor Gericht auftritt, in Gegenwart von Frauen, Richtern und anderen Autoritätspersonen bleibt er cool. Er hat seine Gefühle im Griff, und die vielen Plädoyers und außergerichtlichen Einigungen haben ihn gehörig abgehärtet. Doch wenn er nur daran denkt, Nina wiederzusehen, bekommt er Herzklopfen. Seine Hände flattern, er fängt an zu stammeln, das kennt er gar nicht von sich. Er verliert den Boden unter den Füßen. Wo ist seine berühmte Selbstsicherheit geblieben? Und seine Arroganz? Wie weggeblasen. Er greift sich ans Handgelenk und misst seinen rasenden Puls, er zittert unkontrolliert, selbst die bläuliche Vene, die sichüber seinen Unterarm schlängelt, scheint zu vibrieren. Er betrachtet sich konzentriert im Spiegel, als wollte er eine Bestandsaufnahme machen, zieht sich drei, vier Mal um– erst ist das Hemd zu stark tailliert, dann wieder der Kragen schlecht gebügelt oder die Farbe zu düster. Er