Tex Rubinowitz
TRANCE-SIBIRISCHE EISENBAHN
Am 24. Dezember 1984 bestieg ich mit meiner damaligen finnischen Freundin Vilma um 21 Uhr am Wiener Südbahnhof den Zug nach Moskau. Wien war wie ausgestorben, wattiert durch alle urbanen Geräusche und menschliche Widrigkeiten schluckenden Neuschnee, eine echte stille Nacht, eine gefräßige Stille, alle hatten gegessen und ihre Geschenke ausgepackt, die sie jetzt von allen Seiten betrachteten, sich freuten oder ärgerten, die Kerzen waren halb heruntergebrannt. Der leere D-Wagen brachte uns zum Bahnhof, der einsam seinen Dienst versehende Schaffner schaute immer in seinen Spiegel, wenn ich Vilma küssen wollte, sie wehrte mich ab, sagte: bitte nicht hier drinnen, meinte aber: nicht in dieser unberührten Nacht.
Am Bahnsteig wurden wir von einem Waggonschaffner empfangen, stilecht, wie ich fand, er lächelte, sein Gebiss war ganz golden, seine Uniform noch sowjetisch, also von einer militärischen nur mit kundigem Auge zu unterscheiden.
Er brachte uns zu unserem Abteil, der Zug war auch nicht viel voller, als die Straßenbahn gewesen war, ein paar Russen mit verschnürten Pappkartons, Feierlichkeit gab’s hier keine, aber es war ja auch nicht ihr Weihnachtsfest heute Nacht, das orthodoxe findet ein paar Tage später statt, der gregorianische Kalender geht etwas nach, oder unserer vor.
Der Zug fuhr an, und jetzt begann, mit nur einer Unterbrechung, eine magische Fahrt, deren Zauber nicht unbedingt im Ankommen lag, sondern sich eher auf der Strecke zwischen zwei Punkten entfaltete, die immer kleiner wurden, je konstanter und monotoner der Zustand, der Stillstand in der Bewegung wurde. Denn der Weg, den wir vor uns hatten, war lang, er ging nach Peking. Zunächst 40 Stunden nach Moskau, und dann sechs Tage nach China, Tage, die man schon nicht mehr in Stunden messen kann, so diffus werden sie im elastischen Raum.