»Dustin!«
Der Junge zuckte zusammen und hobängstlich den Kopf. Er saß in seinem Kinderzimmer auf dem Boden und spielte mit seinen Plastik-Dinosauriern.
»Dustin!«
Er horchte und spähte in die dunkle Ecke des Kinderzimmers. Was war das?
»Dustin!«
Er drehte den Kopf zur anderen Seite. Da war doch niemand. Woher kam die Stimme?
»Dustin! Weißt du, wer ich bin?«
Der Junge sah einen Schatten und kroch unter den kleinen Plastiktisch.
»Dustin! Ich bin es!«
Der Junge erstarrte. Sein Gesicht wurde weiß.«Mama!«, flüsterte er.»Mama. Wo bist du?«
»Geh zum Fenster!«, sagte die Stimme.
Dustin kroch unter dem Tisch hervor und ging ans Fenster.
»Mach das Fenster auf!«
Dustin stellte sich auf die Zehenspitzen, drückte den Griff nach unten undöffnete das Fenster.
»Siehst du den Baum?«, fragte die Stimme.
Der Junge blickte auf die kahlen Zweige der Linde auf der Anhöhe. Ein eiskalter Wind wehte ins Zimmer, aber das störte ihn nicht. Er starrte auf den Baum. Die dunklenÄste zeichneten sich wie ein Geflecht von Adern vor dem grauen Himmel ab. In den Adern floss schwarzes Blut. Das Blut war so schwarz wie die Vögel, die im Geäst saßen oder hingen– den Kopf mit den spitzen Schnäbeln nach unten. Es waren Vögel von allen Größen, ein Gewirr von gefiederten Wesen, großen und kleinen. Sie schienen sich nicht zu bewegen, sie schienen leblos und starr, als schliefen sie oder wären tot.
Er horchte. Wo war die Stimme?»Mama!«, rief er.»Wo bist du?«
»Dustin! Die Vögel… sind… deine Freunde. Denk… daran, ich… bin… nicht… tot.« Die Stimme wurde immer leiser. Die letzten Worte waren kaum noch zu hören.
Tot. Der Junge formte das Wort TOT mit seinen schmalen, blassen Lippen. Sein Gesicht war blass, seine Haut schien durchsichtig, seine Augen waren von einem wässrigen Blau. Er war sehr dünn, das T-Shirt mit dem Dinosaurier darauf war viel zu weit für seine schmale Brust, die dünnen, knochigen Arme sahen aus wie Stecken.
Unten liefen Kinder vorbei. Sie sahen nach oben und riefen:»Hallo, du da, komm doch runter, und spiel mit uns!« Sie winkten, warteten kurz, doch als er nicht antwortete, liefen sie weiter.
Dustin hatte die Kinderüberhaupt nicht wahrgenommen. Er stand am Fenster und starrte auf die Linde und den Steinhaufen darunter. Der Wind wurde immer beißender, aber der Junge schloss das Fenster nicht.
Die Kinder waren verschwunden, sie waren nach Hause gelaufen, wo ihre Mütter mit dem Abendbrot auf sie warteten und sie ermahnten:»Abendbrot! Wascht euch die Hände! Seid nicht so laut! Jetzt ist aber Schluss mit Fernsehen! Habt ihr mich verstanden?« Und dann würden sie nach all dem Geschimpfe und Gemecker ihre Kinder in die Arme nehmen und sie drücken und küssen und froh sein, dass es sie gab, diese kleinen Wesen, die sie so sehr liebten und für die sie alles tun würden.
Dustin hatte keine Mutter mehr. Er war allein. Er starrte immer weiter auf den Baum, der schwärzer und schwärzer wurde, und auf die Vögel, die nach wie vor dort saßen oder hingen.
Als die Umrisse des mächtigen Baumes noch schärfer hervortraten und die Luft immer eisiger wurde, erhoben sich die Raben auf den unterenÄsten. Sie spreizten die Flügel und schüttelten sich, als erwachten sie aus einem langen, tiefen Schlaf. Sie streckten die nadeldünnen Beine, stellten sich auf die spitzen Vogelfüße und erhoben sich in die Luft, um nach einem kurzen Flug gleich wieder auf dem Erdboden zu landen.Kra, kroa, kra– krächzten sie und begannen, mit den Schnäbeln ins Erdreich zu hacken, wild und schnell wie kleine Hämmer an einer Maschine.
Der Dreck spritzte auf, sie bohrten den Schnabel immer tiefer in den Boden, pickten etwas Weißes heraus, erhoben sich und kamen direkt auf Dustin zugeflogen. Der Junge stand bewegungslos da. Er hörte das Rauschen in der Luft, als die Schar immer näher kam, hörte dasKra, kroa,kra, das seltsam vertraut klang, und wich keinen Zentimeter zurück, als sich die Vögel ganz dicht vor ihm auf der Fensterbank niederließen. Er hatte keine Angst vor ihnen, nein,überhaupt nicht, das waren doch seine Freunde! Fast hätte er sogar die Hand ausgestreckt und ihr drahtiges Gefieder gestreichelt.
Sieöffneten einer nach dem anderen den Schnabel, ließen die gräulich-weißen Stäbchen fallen und blickten Dustin aus ihren großen, schwarz blinkenden Kugelaugen an, als warteten sie darauf, dass er etwas zu ihnen sagte. Dann spreizten sie lautlos die Flügel und flogen ins Dunkel hinaus.
Dustin starrte auf die Stäbchen. Er nahm eins in die Hand. Es war ein kleiner Knochen. Er sammelte die anderen Knöchelchen ein und schloss das Fenster. Dann suchte er nach einer Kiste. Schließlich fand er eine leere Spielzeugschachtel und legte die kleinen, schmutzig grauen Knochen vorsichtig hinein.
*
Alban Wittrock hatte die aufsteigende Panik in seinen rechten Fuß verbann