Musik entsteht überall, wo Menschen sind
Gesprächspartner: Mathias Plüss
Erstveröffentlichung: Das Magazin Nr. 7, Februar 2014
Herr Harnoncourt, Sie machen seit achtzig Jahren Musik. Was ist Musik?
Über diese Frage habe ich ein Leben lang nachgedacht. Und bin zu keinem Resultat gekommen. Musik ist, wie jede Kunst, für mich ein unerklärbares Rätsel.
Warum?
Es beginnt schon damit, daß es keine Kultur ohne Musik gibt – von den Eskimos bis zu den heißesten Gegenden Afrikas. Auch sehr isolierte Völker haben Musik. Das heißt, Musik entsteht überall, wo Menschen sind. Das ist doch ziemlich rätselhaft. Es gibt auch keine Kultur ohne Dichtung. Und es gibt keine Kultur ohne Bildende Kunst.
Aber eine Besonderheit hat die Musik: Sie kann unglaublich emotional wirken.
Das ist schon merkwürdig. Vielleicht kennen Sie diese Situation: ein Todesfall in der Familie. Bei der Trauerfeier sind alle beherrscht, weil man in unserer Kultur nicht öffentlich weint.
Es ziemt sich nicht.
Meine Mutter hat einmal in der Kirche zu einem meiner Brüder gesagt, der weinen mußte: »Disziplin, mein Bub!« Auf einer Trauerfeier! Also stellen Sie sich eine Gruppe Trauernder vor, sehr gefaßt, man spricht über den Toten, was für ein wunderbarer Zeitgenosse er war, und dann setzt Musik ein, vielleicht ein Streichquartett oder ein kleiner Chor. Es geht keine zwei Takte, und mit der Beherrschung ist es vorbei, alle beginnen zu weinen. Das kann nur Musik.
Wieso kann sie es?
Offenbar hat sie direkten Zugang zu den Emotionen, sie öffnet die Schleusen. Aber es bleibt ein Rätsel.
Gibt es Musik auch bei den Tieren?
Nein. Tiere haben keine Kunst – das ist gerade der entscheidende Unterschied zwischen dem