VORSPIEL
1 Die Tragfähigkeit der Luft
»Und so hat niemand mehr Geist, als er Liebe hat.«
Theodor Lessing2
»Es raspelt wieder in meinem Kamin«, sagt die Freundin ganz aufgeregt. Dann muss sie selbst über ihre Worte lachen. Sie wippt von einem Bein auf das andere. Sie hat sich nicht umgezogen. In ihrem Hauskleid steht sie vor meinem Tisch, draußen auf der Terrasse von Walters Bar.
Laue Luft erfüllt den Platz im Zentrum des kleinen italienischen Städtchens in den Bergen über der Riviera. Die Sonne ist schon verschwunden, aber wie ihr Nachbild setzt sich silbriges Licht zwischen den Häusern fest, als wolle auch die Nacht erleuchtet bleiben. »Irgendwas kratzt und scharrt wieder hinter der Wand. Kannst du nicht noch einmal schauen?«, fragt sie. Wieder muss sie lachen. »Vielleicht ist eine Katze hineingefallen«, sage ich. Ich stehe auf, winke dem Wirt zu, dass ich später bezahle, und gehe hinter der Freundin die warme Gasse zur Wohnung hinauf.
Sie arbeitet in der Schule. Sie hat dort eine Stelle, die es in dieser Art bei uns schon lange nicht mehr gibt: Sie ist Pedellin. Ihre Aufgaben umfassen die der Sekretärin, der Hausmeisterin und der Putzfrau. Und sie muss rechtzeitig die Klingel zur Pause drücken. Aber in Wahrheit ist sie die Schulkrankenschwester. Immer wieder einmal sieht man Schüler an ihrem Tisch, der quer am Ende des Korridors steht. Mädchen und Jungen sitzen dort, von der Last des Lernens, der Qual des Kindseins niedergedrückt, den Kopf zwischen den Armen. Auch mitten in der Stunde.
Hier warten die Kinder nicht betreten beim Rektor, weil sie etwas ausgefressen haben. Hier sitzen sie am Tisch der inoffiziellen Schulkrankenschwester, wenn sie unglücklich sind, den Kopf in den Armen verborgen. Die Pedellin tröstet sie. Oder eigentlich tröstet sie gar nicht. Sie lacht. Sie lacht über ihre Schmerzen und ihr Leid. Die Schüler schleppen sich weinend zu ihr, und sie lacht. Und gerade das ist die Medizin. Die Pedellin lacht, aber sie lacht nicht die Schüler aus, sondern die Schmerzen. Sie lacht über das Millionste kleine Unglück, so herzlich und so freundlich, dass es ansteckt und die Wut oder der Schmerz ihre Größe verlieren.
In ihrer Wohnung steige ich auf einen wackligen Stuhl. Sie besitzt insgesamt nicht mehr als drei, alle irgendwie defekt. Wenn Gäste zum Essen da sind, müssen sie Sofapolster an den Tisch heranrücken. Ich ziehe das zusammengeknäulte Handtuch aus dem Loch in der Wand, das für ein Ofenrohr vorgesehen ist. Ruß fällt raschelnd auf die Dielen und auf den Tisch. Wir müssen uns anschauen und schon wieder lachen. Ich habe das am Morgen bereits einmal gemacht, habe das Handtuch herausgezogen und auf Zehenspitzen auf dem Stuhl stehend mit einer Taschenlampe in das Loch über meinem Kopf geleuchtet. Ohne Ergebnis.
Diesmal taste ich mit der Hand. Wieder hören wir das Scharren, diesmal lauter, hektisch. Ich fasse tiefer in den Kamin und berühre etwas Glattes, Nachgiebiges, etwas, das abgerundet ist und sich bewegt. Ich schaudere kurz – und packe dann zu. Als mei