: Saskia Sarginson
: Zertrennlich
: script 5
: 9783732002276
: 1
: CHF 4.50
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 416
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine bewegende und fesselnde Reise zu den dunklen Geheimnissen einer Kindheit, die aus einem unzertrennlichen Ganzen zwei Schwestern machte, die einander wie Fremde erscheinen. Ein flirrender Sommer an Englands Ostküste. Die Zwillingsschwestern Viola und Isolte sind durch duftende Kiefernwälder gestreift, haben auf nebelüberfluteten Lichtungen längst vergessene Sagengestalten beschworen und den scharfen, salzigen Wind des Meeres geatmet. Doch nun, fünfzehn Jahre später, scheinen die beiden nichts mehr gemein zu haben. Während Isolte sich mit verzweifelter Lebensfreude der Welt entgegenwirft, hungert Viola sich in den sicheren Tod. Während eine der Schwestern sich verbissen an ihre Ziele und Pläne klammert, wünscht die andere nichts sehnlicher, als sich aufzulösen und ihrer Vergangenheit zu entkommen. Welcher unaussprechliche Schrecken ist geschehen in jenem Sommer, als alles möglich schien und der das Erwachsenwerden zweier Zwillingsschwestern so unerbittlich bestimmt? In ihrem hochgelobten Debüt schafft Saskia Sarginson eine bewegende Liebesgeschichte und einen Spannungsroman, dessen Geschichte mitreißt und dessen Atmosphäre lange nachklingt.

Genau wie ihre Protagonistinnen wuchs Saskia Sarginson mitten im Wald in Suffolk auf. Heute lebt sie in London und hat vier Kinder, darunter ein eineiiges Zwillingspaar. Bevor sie freiberufliche Autorin wurde, arbeitete sie als Lektorin, Journalistin, Ghostwriterin und Gutachterin für Drehbücher. Zertrennlich ist ihr erster Roman.

1

Wir sindnicht immer Zwillinge gewesen. Früher waren wir ein einziger Mensch.

Unsere Zeugung verlief ganz gewöhnlich, wie man es in der Biologiestunde lernt. Ihr kennt das ja: Ein besonders sportliches Spermium trifft auf ein Ei und schon bildet sich neues Leben.

Da waren wir also, ein einzelnes, stinknormales Baby. Nun aber kommt der außergewöhnliche Teil der Geschichte, denn dieses eine Ei hat sich geteilt, ist mittendurch in zwei Hälften gerissen und aus uns wurdenzwei Babys. Zwei Hälften eines Ganzen. Komisch, aber wahr– am Anfang waren wir ein einziger Mensch, wenn auch nur eine Millisekunde lang.

Mummy sagte immer, Zwillinge seien das Letzte gewesen, was sie erwartet habe, obwohl ihr klar gewesen sei, dass es einen Grund dafür geben musste, warum sie bereits im vierten Schwangerschaftsmonat durch keine Tür mehr passte, geschweige denn ihre Jeans zubekam. Mummy war wunderschön. Das fanden alle. Sie sah aus wie eine Eiskönigin aus dem Märchenbuch. Eine Königin in Flipflops und troddelbesetzten indianischen Röcken und mit nikotingelben Fingern. Wer unser Vater war, wollte sie uns nicht verraten. Nicht, dass es wirklich wichtig gewesen wäre. Aber wir fanden es aufregend, Vermutungen darüber anzustellen, wer er wohl sein könnte, als wären wir dadurch in der Lage, die Geschichte unserer Geburt selbst zu bestimmen.

Es gibt einen griechischen Mythos, laut dem eine Frau, wenn sie am selben Tag mit einem Gott und einem Sterblichen schläft, zwei Kinder bekommt: von jedem Vater eines. So verdorben war jedoch selbst unsere Mutter nicht. Aber wenn wir mal wiederüber den Fliederbaum bis aufs Dach des Schuppens geklettert waren, uns dort einen Apfel teilten undüber mögliche Väter diskutierten, war die Vorstellung von einem Gott schon ziemlich befriedigend.

Die offensichtlichste Option war ein Gott der Rockmusik. Unsere Mutter war geradezu besessen vonThe Doors. Oft betrachtete sie seufzend Jim Morrisons Foto auf der Plattenhülle. Das Einzige, was wirüber unseren Dad wussten, war, dass unsere Mutter ihn auf einem Festival in Kalifornien kennengelernt hatte. Bingo. Esmusste Morrison sein. Auf jeden Fall wollten wir keinen der gruseligen, abgedrehten Typen zum Vater haben, mit denen wir in der Kommune in Wales gelebt hatten. Den Langen Luke zum Beispiel oder Eric, der so müffelte. Von denen hatte Mummy doch keinen geliebt. Einmal schrieben wir Mr Morrison heimlich einen Brief, unterzeichnet mit Viola und Isolte Love. Eine Antwort haben wir nie bekommen.

Am dritten Juli 1971 wurde Jim Morrison tot in seiner Badewanne in Paris aufgefunden. Die Ursache: Herzversagen, vermutlich aufgrund von schwerem Alkoholismus. Er hatte kein Rockmusik-Gott mehr sein wollen, sondern Dichter, und nur noch darauf gewartet, dass sein Plattenvertrag auslief. Als wir an dem Tag, als die Nachricht bekannt wurde, aus der Schule nach Hause kamen, fanden wir unsere Mutter vor, wie sie wieder und wiederHello, I love you hörte und in ihr Rotweinglas schluchzte. Auch wir weinten oben in unserem Kinderzimmer, heulten lauthals in die Kissen. Zuerst war es lediglich gespielt, aber dann wurde daraus echte Verzweiflung. Kennt ihr das? Wie sich manchmal, wenn man richtig heftig lacht, plötzlich eine Art emotionaler Schalter umlegt und man anfängt zu weinen? So ungefähr war das. Nur dass es diesmal eben vorgetäuschtes Weinen war, das sich in echtes verwandelte, und mit einem Mal versanken wir in Tränen, japsten zittrig nach Luft und rieben uns den Rotz von den Wangen. Und dabei hatten wir keine Ahnung, weshalb wirüberhaupt so schluchzten. Später, als Mummy wieder nüchtern war und wir alle hicksend durch geschwollene Augenlider blinzelten, erklärte sie uns, dass Jim Morrison definitiv nicht unser Vater gewesen war.»Ihr Dummerchen«, seufzte sie wehmütig.»Wie kommt ihr denn auf so was?«

Auch danach versuchten wir noch einige Male herauszufinden, wer unser Vater war. Aber damit verärgerten wir Mummy nur. Sie zuckte mit den Schultern, drehte sich langsam eine Zigarette und blies Rauchringe in die Luft, enttäuschtüber unsere stumpfsinnigen Fragen.»Ich habe eine neue Dynastie gegründet«, verkündete sie.»Ich will, dass ihr euch eure Zukunft selbst aufbaut. Ihr braucht keine Vergangenheit.« Wir wussten, dass sie unsere Sehnsucht nach einem Vater für kleinlich und spießig hielt. Und das war das Schlimmste, was man auf der Welt sein konnte.

Im Frühjahr 1972 kam Mummy angesichts des Bergarbeiterstreiks und der Drei-Tage-Woche zu dem Schluss, das ganze Land gehe vor die Hunde. Ted Heath sei ein konservativer Idiot und wir müssten auf das Schlimmste vorbereitet sein. Selbstversorger werden. Also riss sie im Garten die mickrigen Blumen aus, pflanzte stattdessen Gemüse an und kaufte außerdem zwei Ziegen, Tess und Bathsheba. Eine war braun, die andere schwarz, und beide hatten zuckende Stummelschwänze und gespaltene Hufe wie der Teufel. Wir bemühten uns wirklich, sie ins Herz zu schließen, aber sie taten den ganzen Tag nichts anderes als kauen. Unablässig mahlten ihre langen Zähne aufeinander. Selbst wenn wir uns vor sie auf den Boden kauerten und ihnen die Ohren kraulten, kauten sie weiter