: Alfred Döblin
: Amazonas Fischer Klassik PLUS
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104030104
: 1
: CHF 19.00
:
: Hauptwerk vor 1945
: German
: 896
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Döblins große Südamerika-Trilogie »Ihr seid in einer grauenhaften Unwissenheit«, sagt der Häuptling am Ende der ?Amazonas?-Trilogie zu den Europäern. Alfred Döblins im Exil entstandenes Erzählwerk veranschaulicht diese koloniale Ignoranz und ist so gesehen auch ein großes Buch der Trauer über die europäische Zivilisation. Darüber hinaus aber ist es der beeindruckende Versuch, dem unbekannten südamerikanischen Kontinent, seiner Natur, dem Wald und Wasser, den Tieren und Menschen, eine Vielzahl von Stimmen, Bildern und Geschichten zu verleihen. Ein opulent erzähltes Romanwerk, das unserer bis heute bestehenden Unwissenheit das ?Wissen? einer Tatsachenphantasie« entgegensetzt, die so überbordend und mitreißend ist wie der Amazonasstrom. Mit einem Nachwort von Alexander Honold

Alfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, arbeitete zunächst als Assistenzarzt und eröffnete 1911 in Berlin eine eigene Praxis. Döblins erster großer Roman erschien im Jahr 1915/16 bei S. Fischer. Sein größter Erfolg war der 1929 ebenfalls bei S. Fischer publizierte Roman ?Berlin Alexanderplatz?. 1933 emigrierte Döblin nach Frankreich und schließlich in die USA. Nach 1945 lebte er zunächst wieder in Deutschland, zog dann aber 1953 mit seiner Familie nach Paris. Alfred Döblin starb am 26. Juni 1957.

Erster TeilDas Land ohne Tod


Erstes BuchAmazonas


Der Auszug der Frauenvölker


Die alte Frau wachte auf, wie der Udu im Walde rief: tru tru, udu, udu. Sie ging von Hütte zu Hütte. Die Frauen kamen heraus, dreißig Frauen und reife Mädchen. Die Alte blieb am Sippenhaus. Vom Hügel gingen sie zum Wald herunter im Gänsemarsch, eine hinter der andern, es blieb viel Platz zwischen ihnen. Im Wald war es dämmerig, der Morgennebel stieg. Auf dem Fruchtbaum schrie der Udu noch immer: tru tru, udu udu. Der Pfad war gewunden. Ein Fels hieß das Gras. Da zogen sie zu dem kleinen Flußlauf herunter. Sie hatten nicht gegessen und nicht getrunken, sie waren ohne Bemalung und ohne Schmuck. Nur die Hüftschnur und den Lendenschurz trugen sie. Es war feucht unten, und der Tau lag. Aber sie hatten keine Matten umgelegt, um die Männer, draußen auf dem Kriegspfad, nicht zu beladen. Sie fröstelten nicht, damit die Männer nicht zitterten. Das Gebüsch am rieselnden Wasser trennte sie, sie sprachen nicht. Langsam waren sie gegangen, um die Männer nicht zu ermüden. Sie stellten sich am dunklen Wasserlauf auf im Schilf.

 

Warum sprachen sie nicht, warum riefen sie sich nicht, warum hatten sie sich heimlich aus dem Dorf entfernt? Sie hielten jede ein silbriges Stück Bast in der Hand. Keine blickte zur anderen, alle duckten sich an den Boden im Schilf. Und kauernd flüsterte jede zu dem Stückchen Bast herunter, manche schloß die Augen, manche lächelte, jede sprach einen Namen, den eines Mannes, mit dem sie etwas gehabt hatte außer ihrem Mann oder ihrem Liebsten. Um die Untreue machte sie einen Knoten, knotete sie drin ein. Sie ballte den Bast in der Faust, schlug das Schilf vor sich zurück. Aus dreißig Händen flogen die Knoten in das Flüßchen. Das hatten sie jetzt getan, ihre Männer leicht gemacht. Still zogen sie wieder zurück, durch das Schilf, um den Fels herum, eine hinter der anderen.

Das Dorf hieß Krötenloch. Als die Sonne höher stieg, rösteten Frauen Manioca vor ihren Hütten und dem Sippenhaus, andere arbeiteten in der Pflanzung, einige stiegen mit Netzen zum Flüßchen herunter. Wie die Alte an der großen Feuerstelle vor der Maloca, dem Sippenhaus, sich nach einer jungen Frau umsah, die im Topfe Mehl mit Wasser verrieben hatte, war sie nicht da, und die Kinder sagten, sie sei ins Haus gelaufen. Die Alte traf sie hinter dem Haus am Gebüsch, wo sie erbrach und vor der Alten davonlief. Sie ergriff sie: »Warum versteckst du dich?« Weil die junge Frau krank war, rief man einen Medizinmann, der im Dorf geblieben war. Man brachte sie in eine kleine Hütte abseits. Alle sprachen von der Kranken, sie war jungverheiratet. Am nächsten Tage war sie heiß. Der Zauberer nahm seine Rassel und schritt um sie. Im Dorf sprachen sie von der Kranken, sie wagten nicht zu sagen, was sie dachten. Als am Abend noch eine Frau und ein Kind erkrankte, war die Angst groß. Der Medizinmann holte am nächsten Tage aus dem Nachbardorf einen noch älteren Zauberer, sie hießen alle sich mit Ockerfarbe einreiben, um sich zu schützen, dann forschten sie, wer Schlechtes im Dorf getan hätte. Sie hielten zwei alte Frauen für verdächtig, aber niemand im Dorf glaubte es. Man wagte noch immer nicht auszusprechen, was man fürchtete.

In der dritten Nacht brach ein großes Geschrei aus. Im Sippenhaus schrien sie, aus den Nachbarhütten kamen sie über den Hügel gelaufen mit Feuerbrän