: Sofi Oksanen
: Als die Tauben verschwanden Roman
: Verlag Kiepenheuer& Witsch GmbH
: 9783462308266
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 432
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Finnland ist Gastland der Frankfurter Buchmesse und Sofi Oksanen ihr Star Der Roman folgt dem Schicksal dreier Esten während des Zweiten Weltkriegs und danach: Roland, einem prinzipientreuen estnischen Freiheitskämpfer, seinem machthungrigen, skrupellosen Cousin Edgar und dessen Frau Juudit, die sich in einen deutschen Offizier verliebt. Ein meisterhaft komponierter Roman über Machtstreben, Liebe und Verrat.Estland zur Zeit der deutschen Besatzung: Während sich Roland versteckt hält, weil er immer noch an die estnische Befreiung glaubt, versucht Edgar ins Zentrum der Machthaber vorzustoßen. Seine Frau Juudit verliebt sich in einen hohen deutschen Offizier, nicht ahnend, dass ihr Mann über genau diesen Offizier die Karriereleiter emporklettern möchte. Nach dem Krieg werden die Karten neu gemischt, Estland steht unter der Besatzung der Sowjets, und wieder ist es Edgar, der hofft, seiner Vergangenheit zum Trotz auch bei den Kommunisten eine herausragende Rolle zu spielen. Intrigen und Legenden, Verrat und Heimtücke, Liebe und Familie - Sofi Oksanen hat einen Roman geschrieben, der sich durch die meisterliche Konstruktion wie ein Thriller liest und dessen Figuren, allen voran Edgar, man nicht mehr vergisst.Die internationale literarische Sensation des Jahres.

Sofi Oksanen, geboren 1977, Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters, studierte Dramaturgie an der Theaterakademie von Helsinki. Ihr dritter Roman, »Fegefeuer«, war monatelang Nummer eins der finnischen Bestsellerliste und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Finlandia-Preis, dem Literaturpreis des Nordischen Rates und dem Prix Femina. Der Roman erschien in über vierzig Ländern und machte die Autorin auch in Deutschland zu einer der wichtigsten Vertreterinnen der internationalen Gegenwartsliteratur. Sofi Oksanen lebt in Helsinki.

1941, Nordestland


EstnischeSSR, Sowjetunion

Das Brummen wurde lauter; ich wusste, was dort hinter den Bäumen näher rückte. Ich warf einen Blick auf meine Hände, sie waren ruhig. Einen Augenblick später würde ich der sich nähernden Autokolonne entgegenlaufen und nicht an Edgar denken, nicht an seine Nerven. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er mit zittrigen Bewegungen an seinen Reithosen herumnestelte, sein Gesicht hatte eine für den Kampf unpassende Farbe. Erst kürzlich waren wir in Finnland ausgebildet worden, und ich hatte mich um Edgar gekümmert wie um ein Kind, damit er zurechtkam. Im Kampf war das anders. Unsere Aufgabe war hier und jetzt. Jetzt! Ich rannte los, die Granaten schlugen mir gegen die Schenkel, hastig zog ich eine aus dem Stiefelschaft, und meine Finger sahen sie schon durch die Luft fliegen. Das Hemd der finnischen Armee, das ich auf der Ausbildungsinsel angezogen hatte, fühlte sich immer noch neu an, es verstärkte die Kraft in meinen Beinen. Bald würden alle Männer meines Landes nur die Ausrüstung der Armee Estlands und niemandes sonst tragen, nicht die fremder Eroberer, nicht die von Verbündeten, nur die eigene. Das war unser Ziel, wir würden uns unser Land zurücknehmen.

Ich hörte, wie die anderen mir folgten, wie der Boden sich unter unserer Kraft bog, und lief dem Motorengebrumm noch schneller entgegen. Ich roch den Schweiß des Feindes, im Mund schmeckte ich schon Wut und Eisen, in meinen Stiefeln rannte jemand anders, derselbe fühllose Kämpfer, der neulich im Kampfgetümmel in den Graben gesprungen war und gegen die Männer des Vernichtungsbataillons Handgranaten geworfen hatte, Verschluss, Zugdraht und Wurf, Verschluss, Zugdraht und Wurf, das war jemand anders, Verschluss, Zugdraht und Wurf, und dieser Jemand stürmte jetzt dem Brummen entgegen. Unsere Maschinengewehre waren auf die Kolonne gerichtet. Das waren mehr Leute, als wir erwartet hatten, es waren unendlich viele, Russen und Angehörige des Vernichtungsbataillons mit estnischer Haltung, und sie hatten unendlich viele Wagen und Maschinengewehre. Aber wir erschraken nicht, die Feinde erschraken, uns trieb der Zorn an, und er trieb uns mit solcher Kraft, dass die Gegner für einen Moment anhielten, die Reifen desMootor-Busses drehten einen Augenblick durch, unser Zorn nagelte sie an dem Augenblick fest, als das Feuer eröffnet wurde; mit den anderen zusammen griff ich den Bus an, und wir töteten sie alle.

 

Meine Arme zitterten von den Kugeln, die ich ausgesandt hatte; das Gewicht der Handgranate, die ich geworfen hatte, hing mir noch schwer am Handgelenk, aber allmählich begriff ich, dass der Kampf vorüber war. Als meine Beine sich daran gewöhnt hatten, stillzustehen, und keine Patronenhülsen mehr zu Boden regneten, bemerkte ich, dass das Ende des Kampfes keine Stille gebracht hatte. Es hatte Lärm gebracht, das Wandern der gierig aus dem Boden aufsteigenden Maden hin zu den Leichen, das geschäftige Rascheln der Handlanger des Todes hin zu dem frischen Blut, und es stank, der Kot und die erbrochene Magensäure stanken. Meine Augen waren geblendet, der Pulverrauch verzog sich, und es war, als erschiene am Rand der Wolke ein strahlender goldener Wagen, bereit, die Gefallenen aufzunehmen, die Unseren, die Männer vom Vernichtungsbataillon, Russen, Esten, alle im selben Wagen. Ich blinzelte. Mir dröhnten die Ohren. Ich sah, wie die Männer keuchten, sich die Stirn wischten, auf der Stelle schwankten wie Bäume. Ich versuchte, zum Himmel zu spähen, nach dem schimmernden Wagen, aber man erlaubte mir nicht, gegen die verbeulte Flanke desMootor-Busses gelehnt zu verharren. Die Muntersten handelten schon so, als kauften sie auf dem Markt ein: Es galt, den Toten die Waffen abzunehmen, nur die Waffen, die Patronengürtel und -taschen. Wir staksten durch Leichenteile und zuckende Gliedmaßen. Als ich der Leiche eines Feindes gerade den Munitionsgürtel abgenommen hatte, umklammerte jemand mit festem Griff meinen Fußknöchel. Der Griff war überraschend stark und zog mich zu dem am Boden röchelnden Mund hinab. Meine Knie gaben nach