: Fernando Pessoa
: Richard Zenith
: Baron von Teive Die Erziehung zum Stoiker
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104032122
: 1
: CHF 9.00
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: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 112
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Álvaro de Campos, Alberto Caeiro, Ricardo Reis - Fernando Pessoa, der größte Dichter Portugals des 20. Jahrhunderts, träumte immer davon, alle Menschen zugleich zu sein. In seinem Werk hat er sich diese Sehnsucht erfüllt: unablässig erschuf er neue Dichter, schenkte ihnen eine Biographie und schrieb ihnen die unterschiedlichsten Werke zu. Die legendäre Truhe, in der man Pessoas Manuskripte lang nach seinem Tod fand, enthält so das größte Stimmentheater der Weltliteratur, dessen Partitur die neue Pessoa-Ausgabe Band für Band enthüllt. Álvaro Coelho de Athayade ist der 20. Baron von Teive und der einzige Selbstmörder im Werk Pessoas. Seine persönliche Chronik ist eine Sammlung negativer Lebenslektionen, und voll Schmerz muss er erkennen, dass er die Bücher, die er schreiben wollte, nicht schreiben kann. Der Text des Halbheteronyms ist eine wichtige Ergänzung zum »Buch der Unruhe«: »Träumen ist besser als sein. Im Traum gelingt alles so mühelos!«

Fernando Pessoa (1888-1935), der bedeutendste moderne Dichter Portugals, ist auch bei uns mit dem »Buch der Unruhe« bekannt geworden. Einen Großteil seiner Jugend vebrachte er in Durban, Südafrika, bevor er 1905 nach Lissabon zurückkehrte, wo er als Handelskorrespondent arbeitete und sich nebenher dem Schreiben widmete. 1912 begann seine Tätigkeit als Literaturkritiker und Essayist. Er schuf nicht nur Gedichte und poetische Prosatexte verschiedenster, ja widersprüchlichster Art, sondern Verkörperungen der Gegenstände seines Denkens und Dichtens: seine Heteronyme, darunter Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Álvaro de Campos - und er schrieb eben auch als Pessoa, das im Portugiesischen so viel wie »Person, jemand« bedeutet.

(als Kind)

 

… die Nachsicht mit all meinen – im übrigen fast nichtigen und fast nur im Verlangen nach Einsamkeit bestehenden – Launen und Wünschen.

 

In der Kindheit nachtragend und rachsüchtig, legte ich mit dem Erwachsenwerden diese kleinliche, weil übertriebene Form der Empfindsamkeit ab. (Ich nehme an, das Erwachen meines abstrakten Denkvermögens war in irgendeiner Weise daran beteiligt.) Doch trage ich sie noch immer in mir, wenn auch anders. Es schmerzt mich noch immer, wenn mir ein Gedanke entfällt, ein Satz, den ich schreiben wollte, wenn ich einen Gesichtspunkt nicht zu Papier bringe. Ich weiß nur zu gut, daß es mir oft nicht gelänge, diesen Entwürfen reale Gestalt zu geben. Zugleich ist eine Eifersucht auf mich selbst in mir, ein Geiz, der mich zum Abstrakten treibt, und ich habe bemerkt, daß Geiz und Rachsucht, vielleicht weil sie beide Erscheinungsformen der Kleinlichkeit sind, miteinander verwandt sind und gleichen Blutes.

 

Plötzliche Einfälle, trefflich, teils in überaus passenden Worten zum Ausdruck gebracht – doch unzusammenhängend, noch zu verknüpfen, wie Monumente zu errichten; aber ich würde sie nicht wollen, wenn sie die Ästhetik zur Gefährtin hätten und nicht Fragmente einer möglichen Erzählung blieben –, nichts als Zeilen, die wunderbar scheinen, es in Wahrheit aber nur wären, wenn man um sie herum jene Erzählung geschrieben hätte, in der sie ausdrucksvolle Momente waren, synthetische Formulierungen, Verbindungen … Einige Formulierungen waren geistreich, trefflich, doch unverständlich ohne den nie geschriebenen Text.

 

Ich setze einem Leben ein Ende, das, wie mir schien, voller Glanz hätte sein können, den auch nur zu wollen ich unfähig war. Hatte ich Gewißheit, fiel mir stets ein, daß alle Narren eine noch größere hatten.

 

Die Sorge um Präzision, das intensive Ringen um Perfektion – weit davon entfernt, zum Handeln anzuregen – sind Charakterzüge, die im Innersten zum Verzicht führen. Träumen ist besser als sein. Im Traum gelingt alles so mühelos!

 

Tausend Gedanken – jeder einzelne davon ein Poem –, die nutzlos gediehen. So zahlreich, daß ich mich nicht an sie erinnern konnte, als ich sie noch hatte, geschweige denn, als sie mir bereits entglitten waren.

 

Die kleinen Emotionen sind geblieben. Ein Lufthauch über einem stillen Landstrich fährt mir [?] durch die Seele. Ein musikalischer Windstoß aus einer fernen Alleenphilharmonie ruft Klänge in mir wach, wie keine Symphonie es im entferntesten vermag. Der Anblick einer alten Frau vor ihrer Haustür stimmt mich milde und gütig. Ein Kind, das abgerissen vor mir steht, erleuchtet mich. Mich erfreut ein Spatz, der sich auf einem Leitungsdraht niederläßt, und all dies ist stärker als ich, wie eine unenträtselbare Vision der Wahrheit.

 

Ich gehöre zu einer Generation – und nehme an, ich bin nicht der einzige –, die zugleich den Glauben an die Götter der alten Religionen und an die der modernen Irreligionen verloren hat. Ich kann weder Jehova noch die Menschheit akzeptieren. Christus und der Fortschritt sind für mich Mythen aus ein und derselben Welt. Ich glaube weder an die Jungfrau Maria noch an die Elektrizität.

 

Ich bin immer ein millimetergenauer Denker gewesen, habe es peinlich genau mit der Sprache genommen, die ich schreiben, und mit der Abfolge der Gedanken, die ich darlegen wollte.

 

Der Tod meiner Mutter hat das letzte äußere Band zerrissen, das mich noch mit meiner Empfindungsfähigkeit für das Leben verband. Anfangs war ich benommen – befallen von jener Benommenheit, die einen keine Fehler begehen läßt, aber einer Leere im Gehirn gleichkommt, einer intuitiven Erkenntnis des Nichts. Dann wurde mir der Überdruß zur Seelenangst und erstarrte mir zum Ekel.

 

Ihre Liebe, die mir, solange sie lebte, nie klar gewesen war, wurde