ZWEI
Freitag, 7. Dezember 2012
Rowan Lockhart betrat die Anwaltskanzlei Napier, Ogilvy& MacGregor im ersten Stock des Hauses 17D George IV Bridge. Die alteingesessene Kanzlei residierte in diesem Haus bereits seitüber hundert Jahren. Das Innere war zwar modernisiert worden und vermittelte ein geschäftsmäßiges Ambiente der gehobenen Klasse, doch hatten sich die Anwälte bisher geweigert, mit der Tradition zu brechen und in ein moderneres Gebäude in der New Town von Edinburgh zu ziehen. Das lag nicht zuletzt daran, dass das Caffè Lucano nur ein paar Schritte entfernt war, ein Café und Restaurant, in dem es hervorragende italienische Kaffees und leckere Snacks gab, weshalb die Hälfte der Angestellten der Kanzlei dort Stammgäste waren.
Rowan schlug die gefütterte Kapuze ihres Wintermantels zurück und zog die Handschuhe aus. Draußen war es lausig kalt. Der Winter hatte das Land in diesem Jahr in einem mörderischen Griff und die Schneefälle hörten einfach nicht auf. In der Innenstadt waren die Straßen halbwegs geräumt, aber in den Außenbezirken war es schwierig. Rowan hatte zwei Stunden lang die Garage und den Weg zur Straße freischaufeln müssen, ehe sie hatte losfahren können. Und für den Weg von ihrem Haus in der Blackford Avenue bis zur Kanzlei, der normalerweise maximal eine Viertelstunde dauerte, hatte sieüber eine Stunde gebraucht.
Im Vorraum der Kanzlei war es angenehm warm. Vier Sekretärinnen widmeten sich an ihren Tischen ihrer Arbeit. Alle grüßten Rowan freundlich.
„Guten Tag, Ms Lockhart.“ Jenny Anderson erhob sich und half Rowan, den Mantel auszuziehen. Anschließend hängte sie ihn an die Garderobe.„Mr MacGregor erwartet Sie. Gehen Sie einfach hinein.“
„Danke.“ Rowan ging an ihrem Tisch vorbei, klopfte an Michael MacGregors Tür und trat nach seiner Aufforderung ein.„Hi Michael.“
„Hallo Rowan.“ Er erhob sich und deutete auf den Sessel vor seinem Schreibtisch.„Nimm Platz. Tee? Oder etwas Stärkeres?“
„Tee bitte. Das Stärkere nehme ich heute Abend, wenn das Tagwerk getan ist.“ Sie setzte sich, während Michaelüber die Gegensprechanlage bei Jenny Anderson Tee orderte.„Entschuldige bitte meine Verspätung, aber ich hätte mir nicht träumen lassen, dass ich zu Fuß schneller hier gewesen wäre als mit dem Auto.“
Er lachte.„Furchtbare Kälte, nicht wahr?“, begann er mit der Diskussionüber das Wetter, die in Schottland jede Unterhaltung einleitete.„In den Nachrichten haben sie heute Morgen gesagt, dass weiter im Norden der Verkehr vollkommen zum Erliegen gekommen ist.“
„Ja, in den ländlichen Gebieten sind sie eingeschneit.“
Sie plauderten, bis Jenny Anderson den Tee gebracht und sie beide ihren ersten Schluck getrunken hatten. Danach zog Rowan einen dicken Briefumschlag aus ihrer ledernen Umhängetasche, die in ihrer Form einem sporran nachempfunden war, der zum Kilt gehörenden Tasche, die vor dem Unterleib getragen wurde. Rowans Tasche war nur erheblich größer und hatte ihr schon in ihrer Collegezeit beste Dienste geleistet. Eigentlich wäre sie längst reif für die Mülltonne gewesen, aber„Smitty“ Macmillan, ein Scottish Traveller und Oberhaupt eines Clans fahrender Handwerker, den Rowan ab und zu für diverse Arbeiten einspannte, hatte sie ein paar Wochen zuvor runderneuert. Er hatte nicht nur alle dünnen und brüchigen Stellen verstärkt oder ausgetauscht, sondern die Tasche auch mit Applikationen versehen, die zwei einander an der Nase berührende Pferdeköpfe darstellten.
Michael nahm den Umschlag und blickte Rowan hoffnungsvoll an.„Du hast sie gefunden?“
„Nein, das ist der detaillierte Berichtüber alle meine Fehlversuche und die Rechnung dafür.“ Sie winkte ab.„Ja, ich habe sie gefunden. Sie heißt heute Janice Williams und lebt in Cleveland, Ohio. In dem Umschlag befinden sich Kopien aller einschlägigen Dokumente, die lückenlos belegen, dass Janice Williams die leibliche Tochter eures Klienten ist. Eine endgültige Bestätigung muss natürlich ein DNA-Abgleich bringen, aber ich versichere dir, dass ein Irrtum zu achtundneunzig Prozent ausgeschlossen ist.“
Michael lächelte zufrieden.„Rowan, ich könnte dich küssen.“
Sie hob abwehrend die Hände.„Du willst meine Schwester heiraten, nicht mich.“
„Werde ich, keine Sorge. Aber ein schwägerlicher Kuss in Ehren...“ Angesichts ihres warnenden Blickes verzichtete er lieber doch darauf. Er zog die Papiere aus dem Umschlag undüberflog sie, ehe er den Kopf schüttelte.„Wie hast du das nur geschafft?“
„Indem ich herumtelefoniert und gefaxt und gesimst und im Internet gesucht habe, bis ich ein paar Leute fand, die jemanden kannten, der wiederum jemanden kannte, der jemanden zu kennen glaubte, der...“
Michaels Lachen unterbrach sie.„Wie dem auch sei, unser Klient wird entzückt sein, dass seine ver