Strafsache K 97278:
Eberhard Schulze
Der Jungenkreis im Domgemeindehaus Zwickau war wieder super. Eberhard läuft durch den Maiabend nach Hause und hat das neue Lied im Kopf, das sie nun schon mehrere Wochen jedes Mal zum Abschluss singen:„Wir jungen Christen tragen…“ Er versucht alle fünf Strophen herzusagen, aber das gelingt noch nicht ganz. Eigentlich würde er gern so einen mit Schreibmaschine geschriebenen Zettel mit nach Hause nehmen, aber Karl-Heinz, der Jugendleiter, wacht darüber wieüber einen großen Schatz. Klar, er hat keine Schreibmaschine. Irgendeine Sekretärin hat im Volkseigenen Betrieb (VEB) die Blätter mit 4-5 Durchschlägen heimlich vervielfältigt. Man vermutet, es war seine Freundin Erika, aber es ist besser, wenn das niemand weiß.
Eberhard kommt noch vor seinem Vater nach Hause, der in Espenhain in der Braunkohle arbeitet. Auch Eberhard hat mit fünfzehn Jahren im Bergbau angefangen, aber die Arbeit war für ihn zu schwer und so hat er mit neunzehn beim Schuhmachermeister Fitztum noch einmal eine Lehre begonnen. Mit dem Gesellen Günter versteht sich Eberhard gut. Zum Meister findet er kein so rechtes Vertrauen, außerdem ist der oft unterwegs.
Seine Mutter wartet schon auf Eberhard und hat ihm ein Marmeladenbrot geschmiert, denn hungrig ist er immer. Sie hat am Nachmittag zwei Stunden beim Fleischer gestanden, aber als sie an den Ladentisch kam, waren nur noch ausgelassenes Fett und Knochen zu bekommen. Zu gern hätte sie ihrem Eberhard und ihrem Mann ein dickes Wurstbrot vorbereitet, aber darauf müssen sie wieder einmal verzichten.„Samstag vielleicht“, sagte der Fleischer.
Inzwischen ist es dunkel geworden und ein leichter Nieselregen geht nieder.„Das wird unseren Kartoffeln im Garten guttun“, meint die Mutter, die am Fenster steht und auf ihren Mann wartet. Sie sieht zwei Autos vorfahren und wenig später klingelt es Sturm an der Wohnungstür. Zwei Männer mit Gesichtsmasken stürmen in die Küche, gehen zielgerichtet auf Eberhard zu.„Mitkommen!“ Die Mutter sieht mit Entsetzen in dieängstlichen Augen ihres Sohnes, den die Männer schon an den Armen packen und nach draußen ziehen.„Mutti, bete für mich!“ Das sind die letzten Worte, die sie von Eberhard hört. Geistesgegenwärtig zieht die Mutter ein dickes Nachthemd von der Leineüber dem Küchenofen und steckt es Eberhard unter den Arm.
Der wird vor eines der Autos gezogen und das erste Mal in seinem Leben sieht er eine Pistole. Sie ist direkt auf ihn gerichtet. In gebrochenem Deutsch kommt der Befehl:„Einsteigen, du mache kein Problem!“ Als er sich in den Wagen beugt, sieht Eberhard noch, dass hinter ihnen ein weiteres Auto parkt, vor dem ein Soldat mit Maschinenpistole steht. Die Fahrt geht Richtung Erzgebirge.
„Warum werde ich verhaftet? Ich habe doch nichts getan!“
„Du Feind der Sowjetunion. Hast gemacht Spionage. Tot gehen.“
Es ist Oktober 1951. Eberhard ist sich keiner Schuld bewusst. Er weiß auch nicht, ob er sich jemals negativ in derÖffentlichkeit gegen die Sowjetunion geäußert hat. Zwischen panischer Angst und der Vorstellung, dass man ihn an die Wand stellt, klammert er sich an die Hoffnung, dass alles ein Missverständnis ist. Aber wer wird ihm glauben?
Am Ortseingangsschild kann er„Schneeberg“ lesen. Noch in der Nacht wird er zwei Stunden verhört. Es sind russische Offiziere, die ihm gegenübersitzen und ihm unter blendenden Lampen Fragen stellen. Eine Dolmetscherinübersetzt. Er wird beschuldigt, Uran vom Wismutbergbau in den Westen gesc