: Christoph Horn
: Nichtideale Normativität Ein neuer Blick auf Kants politische Philosophie
: Suhrkamp
: 9783518730676
: 1
: CHF 22.00
:
: 20. und 21. Jahrhundert
: German
: 356
: Wasserzeichen/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB/PDF
Das politische Denken Kants wird zu oberflächlich gedeutet, wenn man es - wie in der vorherrschenden »moralischen Interpretation« - einfach als Fortsetzung seiner Ethik der 1780er Jahre auffasst. Die bisherige Interpretation kann nicht erklären, warum Kant darin zentrale Moralitätsmerkmale wie das der intrinsischen Motivation oder das eines strikten Universalisierungstests aufgibt. In seiner politischen Philosophie fehlen so viele Charakteristika von Moralität, dass man sie weit besser als Ausdruck einer eigenständigen Form von nichtidealer Normativität auf der Basis der Rechtsidee begreift. Christoph Horn diskutiert Kants ebenso faszinierenden wie problematischen Versuch, eine ausschließlich deontologische Form von politischer Normativität zu entwickeln, ohne dabei auf eine Gütertheorie zurückgreifen zu können.

Studium von Philosophie, Griechisch und Theologie in Freiburg, München und Paris; Promotion 1993 in München: Habilitation 1999 in Tübingen. 2000-2001 Professor für Philosophie an der Universität Gießen. Seit 2001 Professor für Antike und Praktische Philosophie in Bonn. 2003-2004: Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.<br /> Funktionen: Herausgeber Archiv für Geschichte der Philosophie (mit W. Bartuschat, Hamburg, und Christia Mercer, New York); Geschäftsführer der Gesellschaft für antike Philosophie e.V. (GANPH); Direktoriumsmitglied des Instituts für Wissenschaft und Ethik e.V., Bonn; Mitherausgeber der Augustinus-Werkausgabe

672. Menschenrechte und die Grundlagen politischer Normativität


Bisher ergab sich ein ambivalentes Bild von den Vorzügen und Nachteilen der Abhängigkeits- und der Trennungsthese. Einerseits scheint der Kategorische Imperativ für Kant irgendwie die Quelle rechtlicher Normativität zu bilden. Andererseits sahen wir, dass Kant seine Philosophie von Recht und Staat keineswegs auf die Idee der Moralität stützt, nämlich nicht auf die KI-Prozedur und ebenso wenig auf das Prinzip der Autonomie. Er adressiert seine politisch-rechtliche Normativität gleichsam nicht an denhomo noumenon, das innere moralische Bewusstsein des Individuums, zumindest nicht direkt, wie noch deutlicher werden wird. Ein wichtiger Beleg hierfür ist, dass Kant im Grunde alle bestehenden Rechtsordnungen für legitim erklärt; jedenfalls räumt er kein Recht auf zivilen Ungehorsam, Widerstand oder Revolution ein. Aber auch unabhängig davon beschreibt er die Normativität des Rechts weitgehend anders als die der Moral. Was den Menschen als Staatsbürger zu Loyalität verpflichtet, ist nicht innere Einsicht, sondernäußerer Zwang. Als Staatsbürger untersteht man einem Typ von Pflichten, die weder der Autonomie entspringen noch durch ein Testverfahren auf ihre Legitimität hinüberprüft werden können.[1] Kant misst dem Prinzip der Staatsräson einen bedenklich hohen Stellenwert bei; er vertritt eine Variante von politischem Loyalismus, die geradezu obrigkeitsstaatlich anmutet. Dass dies so ist, wird konstrastiv am Bild des ethischen Gemeinwesens deutlich, das als eine am Moralprinzip orientierte quasipolitische Institution konzipiert wird.

Meine These, dass sich Kants rechtlich-politisches Denken nicht auf ein rechtsmoralisches Fundament stützt, lässt so weit aber noch viele Fragen offen. Umüberzeugend zu sein, muss sie durch weitere Analysen untermauert werden. Im vorliegenden Kapitel werde ich dies mit Blick auf drei Themen tun. Ich wende mich zuerst der Frage zu, ob man bei Kant eine Konzeption der Menschenrechte68(in unserem modernen Wortsinn) finden kann (Kap. 2.1). Es wird sich zeigen, dass er davon weit entfernt ist, auch wenn viele Interpreten ihn anders einordnen. Sodann betrachte ich mehrere moralisch fragwürdige Positionen, die in Kants politischem Denken vorkommen oder sich aus ihm ergeben (Kap. 2.2). Sie spielen hier insoweit eine Rolle, als sie Einblicke in Kants Grundpositionen erlauben. Und schließlich beschäftige ich mich mit dem Begriff der Würde oder Menschenwürde bei Kant. Auch»Würde« wird von Kantüberraschenderweise anders gebraucht, als viele es erwarten. Im Zusammenhang damit muss ich auch in Augenschein nehmen, wie seine Axiologie aussieht, das heißt, wie sich Kant das Auftreten bzw. die Entstehung von Werten und Gütern vorstellt (Kap. 2.3).

2.1 Menschenrechte bei Kant?


Kants praktische Philosophie gilt vielen Interpreten als Meilenstein in der Geschichte der Menschenrechtstheorie.[2] Man nimmt allzu leicht an, Kant habe aus seiner Moralitätskonzeption die Idee moralischer Grundrechte für jedes Individuum abgeleitet. Denn wer wie Kant moralischer Universalist ist, scheint auch im politischen Denken einen menschenrechtlichen Universalismus vertreten zu müssen. Um zu zeigen, warum dies falsch ist, muss ich zunächst meinen Gebrauch des Ausdrucks»Menschenrechte« erläutern: Unter Menschenrechten verstehe ich, dem heutigen Sprachgebrauch folgend, eine bestimmte Klasse subjektiver Individualrechte; mit ihnen werden unbedingte Ansprüche formuliert, die allen Menschen gleichermaßen und einfach als Menschen zustehen sollen, also unabhängig von Geschlecht, Religion, Nationalität, Beruf usw. Sie sind unantastbar und unveräußerlich (vgl. Pollmann u. a. 2012). Durch ihre Auflistung und ihre praktische Implementation will man sicherstellen, dass bestimmte Grundinteressen jedes Menschen möglichstüberall und möglichst in vollem Umfang gewährleistet sind. Jede staatliche Institution (und ebenso jedes andere menschliche Individuum) muss jedem Menschen die betreffenden Rechte einräumen, vielleicht sogar eine aktive Leistung dazu er69bringen. Jeder Mensch kann sie gegenüber jeder Institution und gegenüber jedem Individuum geltend machen. Häufig beschränkt man den Begriff von Menschenrechten auf das Handeln staatlicher Akteure, weil dieältere Theoriedebatte sich am Fehlverhalten politisch-rechtlicher Institutionen und ihrer Repräsentanten gegenüber den Bürgern entzündete. Dagegen verwende ich den Ausdruck in breiterer Form, nämlich synonym mit dem Ausdruck»moralische Rechte«. In dieser Gebrauchsweise impliziert er, dass individuelle Akteure ebenso wie staatliche Institutionen Menschenrechte respektieren, einhalten und fördern oder aber missachten, verletzen und destruieren können.

Welche Rechte man zu den Menschenrechten zu zählen hat, ist allerdings politisch wie philosophisch umstritten. Besonders seit dem 18. Jahrhundert werden Menschenrechtskataloge formuliert; diese können unterschiedlich defensiv oder offensiv ausfallen. Eine aktuelle Maximalvariante würde vielleicht folgende sieben Typen von Menschenrechten einschließen: (1) Die gegen den Staat gerichteten Abwehrrechte der liberalen Tradition, (2) Schutzrechte, durch welche das Individuum gegenÜbergriffe anderer