Für Tristan Huguen
Ich bin vor ihm. Ich scheine zu träumen, träume aber nicht. Er ist es. Eindeutig er. Ein Mann, den ich gut kenne. Allzu gut. Sein Gesicht sieht genauso aus wie auf den Bildern, dieüberall hängen, wie das Bild von ihm, das jeden Abend im marokkanischen Fernsehen zu sehen ist. Ein rundes Gesicht. Kleine Nase. Harte, stechende Augen, mit denen nicht zu spaßen ist. Ein gönnerhaftes, dominantes Gesicht. Ein wenig düster. Fern. Nah. Es ist charmant. Entschlossen. Grausam. Zärtlich. Alles zusammen. Ich erkenne es wieder. Ich träume nicht. Ich kann es noch immer nicht fassen. Ich bin vor ihm. Vor ihm? Wirklich? Ja, vor ihm. Er ist es. Er ist dort hinten, im Hintergrund, er sieht mich nicht. Ich gehe auf ihn zu. Ich habe keine Wahl. Er zieht mich an, er beherrscht mich. Ich gehöre ihm. Er ist der König.
König HassanII.
Er ist schön. Ich liebe ihn. Kein Zweifel, ich liebe ihn. Ich habe gelernt, ihn zu lieben. Seinen Namen auszusprechen. Ihn auszurufen.
Er ist schön. Er ist bedeutend. So schön, so bedeutend.
Wir sind in einem Salon. Riesig. Eine Halle. Eine salonartige Halle. Niemals hätte ich mir einen solch großen, solch unermesslichen Salon vorgestellt. Ich bin beeindruckt, aber nicht eingeschüchtert.
Der König ist vor mir. Der König ist fern. Ich will ihn mehr aus der Nähe sehen. Ich laufe auf ihn zu. Ich laufe, ich laufe. Ohne zu atmen. Dann falle ich. Leute lachen. Ich begreife, dass ich mit dem König nicht allein bin. Mein König. Rings um ihn ein Durcheinander. Viele Frauen. Sie sind alle sehr elegant in ihren prachtvoll leuchtenden Kaftanen. Sie sind alle sehr schön. Sie kommen aus allen Gegenden Marokkos. Sie lachenüber mich. Ich falle hin und bin auch schon den Tränen nahe: Das amüsiert sie. Sie lachen lange, ohne mich wirklich anzusehen. Ohne die schwarzen Diener zu bitten, die genauso jung und schön sind wie sie, mir aufzuhelfen und beizustehen. Sie lachen. Anmutig. Immer noch auf dem Fußboden und seltsamerweise nackt, fange auch ich bald an zu lachen. Und ich richte mich auf und beginne erneut zu laufen.
Der König ist immer noch fern. Dort hinten.
Der König lacht nicht wie im Fernsehen.
Der König ist plötzlich ganz nah. Er hält mich auf.
Ich halte an. Ich werfe mich nieder.
Er fragt:»Wie heiße ich?«
Ich antworte naiv, einfältig:»HassanII. König HassanII. von Marokko.«
Er sagt:»Nein. Mein Familienname? Wie lautet mein Familienname?«
Ich weiß ihn nicht. Er ist mir entfallen. Habe ich ihn je gewusst? Ich denke nach. Ich blicke den König an. Eine Sekunde. Ich senke den Kopf. Ich bin kein Rebell.
Für mich braucht ein König keinen Familiennamen. Deswegen ist er ja König und der Stärkste und gebietetüber seine Untertanen, die hingegen Familiennamen tragen müssen, um zu existieren, zu leben, zu gehorchen.
Ich weiß ihn nicht. Ich bleibe stumm vor dem König. Mit gesenktem Kopf. Ich schließe die Augen.
Ohne wütend zu werden, wiederholt er:»Wie lautet mein Familienname?«
Ich weiß es nicht. Ich schweige noch immer. Wo bin ich? Und jetzt? Was tun?
Ich hebe den Kopf. Jetzt blicke ich den König an. Ich bin ein Held.
Er wirkt nicht bösartig. Er wirkt normal, ein menschliches Wesen, kein königliches Ungeheuer. Er ist ruhig. Ein wenig belustigt. Zunehmend belustigt.Über mich?Über die Situation?
Er streckt mir die Hand entgegen, ohne mich zu erreichen, als wolle er mirüber den Kopf und den Nacken streichen. Er streicht darüber.
Ich schließe die Augen. Ich mache sie wieder auf.
Er hat sich mir genähert. Seine beiden Hände umschließen meinen Hals, und er würgt mich immer stärker.
»Mein Familienname? Schnell, schnell. Mein Familienname? Schnell, hab ich gesagt.«
Ich grabe in meinem Kopf ein Loch. Einen Schacht in meinem Gedächtnis. Ich steige hinab, ganz tief hinab.
Der König: Ich bin mit ihm geboren, ich kenne nur ihn, ich sehe nur ihn, ich achte nur ihn. Er istüberall. Er ist der Gebieter. Er ist der Vater. Er ist Gott. Wie kann man nur seinen Familiennamen nicht wissen? Wie kann man diese wichtige Auskunftüber ihn nicht wissen? Wie nur? Hat erüberhaupt einen?
Ich grabe noch immer. Ich denke nach. Ich denke nach.
Ich atme nicht mehr. Ich atme nicht mehr.
Mir wird schwummrig. Alles wird rot.
Ich träume nicht. Ich träume nicht mehr.
Der König lässt mich los.
Ich falle. Ich liege auf dem Boden. Allein.
Eine Frau nähert sich mir. Sie haucht mir einen Berbergesang ins Gesicht. Sie richtet mich auf. Ich lasse es mit mir geschehen. Sie hört auf zu singen. Sie ist sanft. Sie sagt mir auf Arabisch ins linke Ohr:»Geh zu ihm, geh zu dem König, er ist wie dein Vater. Er ist dein Vater.« Und sie stößt mich gewaltsam in seine Richtung. Mit dieser Gewalt, mit diesem Verrat habe ich nicht gerechnet.
Ich bin nichts mehr.
Ich falle erneut.
Ich liege auf dem Boden, zu Füßen des Königs, der mich anblickt. Seine Augen wirken jetzt anders. Sie sind im Dunkeln.
Der König lacht. Laut.
Er hört auf zu lachen. Ganz unvermittelt.
Dann lachen die Frauen, laut, sehr laut und böse. Sie sagen alle im Chor zu mir:»Er ist dein Vater, geh hin, geh hin. Er ist dein Vater. Er ist dein Vater.«
Ich schrak hoch.
Ich hatte geschlafen.
Jetzt schlief ich nicht mehr. Ich war wach. Im Dunkeln. Auf dem Boden. Allein in dem armseligen Zimmer. Inmitten der Schnarchlaute meines Vaters.
Ich hatte Angst. Mein Herz auch: Bald würde es aufhören zu hämmern.
Ich konnte mich nicht an meinen Traum erinnern, an den schwarzen Traum dieser Frühsommernacht, der noch in mir war.
Ich erinnerte mich an nichts.
Wo ist mein Kopf? Wo sind meine Füße? Und meine Haut?
Ich suche sie. Ich starre ins Dunkel und suche sie.
Ohne zu verstehen, sagte ich, rief ich:»Nein, nein, er ist nicht mein Vater. Der König ist nicht mein Vater.«
Und ich brach in Tränen aus. Heiße Tränen. Immer noch voller Angst. Ohne mein Herz zu spüren. Dann schlief ich wieder.
Träumte.
Ich bin am Fuße des Throns. Zu Füßen meines Gebieters. Mein Glück ist verflogen. Meine Liebe ist verflogen. Ich bin ein Verurteilter. Ein Narr des Königs.
Ich weine. Lange?
Ich ringe nach Luft.
Der König macht»Psssst!«.
Die anderen Frauen machen»Psssst!«.
Ich höre auf. Zu leben.
Mit gesenktem Kopf richte ich mich auf. Ich will sprechen. Ich wage es nicht. Ich will etwas sagen, das mir gerade eingefallen ist. Eine Antwort, die ich für intelligent halte. Ich wage es nicht, ich wage es nicht.
Ein schwarzer Diener kommt auf mich zu. Er sagt zu mir:»Nac