: Michael Tomasello
: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens Zur Evolution der Kognition
: Suhrkamp
: 9783518732212
: 1
: CHF 22.00
:
: Theoretische Psychologie
: German
: 307
: Wasserzeichen/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB/PDF
Affen und Menschen teilen noch heute 99 Prozent ihres genetischen Materials.Trotzdem ist es nur der Menschheit gelungen, kognitive Fähigkeiten auszubilden, die so komplexe Gebilde wie etwa sprachliche Kommunikation und soziale Organisationen, Hochleistungsindustrie und entsprechende Technologien hervorgebracht haben. Wie ist das möglich? Gestützt auf zahlreiche Experimente mit Primaten und Kleinkindern, entwickelt Michael Tomasello ein Modell des menschlichen Denkens, das diese Phänomene erklären kann, indem er kulturelle Vermittlung als biologischen Mechanismus begreift. Die Ausführung dieser zentralen These wirft ein neues Licht auf zahlreiche Disziplinen der Geistes- und Naturwissenschaften und zeigt die Verbindung dieser sonst so strikt getrennten »zwei Kulturen« im Licht der evolutionären Anthropologie auf. Michael Tomasello ist Kodirektor am Max- Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie und am Wolfgang-Köhler-Primaten-Fors hungszentrum, beide in Leipzig.

<p>Michael Tomasello, geboren 1950, ist Professor für Psychologie und Neurowissenschaft an der Duke University. Von 1998 bis 2018 war er Co-Direktor des Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Für seine Forschungen wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Jean-Nicod-Preis, dem Hegel-Preis der Stadt Stuttgart und dem Max-Planck-Forschungspreis. 2015 erhielt er für sein Gesamtwerk den prestigeträchtigen Distinguished Scientific Contribution Award der American Psychological Association.</p>

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Ein Rätsel und eine Vermutung

Die großen Errungenschaften des Geistes
übersteigen sämtlich die Kräfte einzelner Individuen.

Charles Sanders Peirce

Irgendwo in Afrika wurde vor etwa sechs Millionen Jahren eine Population von Menschenaffen durch ein unscheinbares Evolutionsereignis von ihren Artgenossen reproduktiv isoliert. Diese neue Gruppe entwickelte sich fort und teilte sich in weitere Gruppen auf, so daß schließlich verschiedene Arten eines zweibeinigen Affen der GattungAustralopithecus entstanden. Alle bis auf eine dieser neuen Arten starben dann aus. Diese eine Artüberlebte bis vor zwei Millionen Jahren und hatte sich in der Zwischenzeit so sehr verändert, daß sie nicht nur nach einer neuen Art-, sondern auch nach einer neuen Gattungsbezeichnung verlangte, nämlichHomo. Im Vergleich mit seinen australopithezinen Vorfahren, die etwa 1,20 m groß waren, Gehirne mit einer anderen Affen vergleichbaren Größe hatten und keine Steinwerkzeuge herstellten, warHomo größer, hatte ein größeres Gehirn und machte Werkzeuge aus Stein. Schon bald begannHomo seine weite Reiseüber den Globus anzutreten, obwohl es keinem seiner frühen Raubzüge von Afrika aus gelang, Populationen zu etablieren, die dauerhaftüberlebten.

Vor ungefähr 200000 Jahren und noch immer in Afrika schlug dann eine Population vonHomo eine neue und andere Entwicklungslinie ein. Diese Population begründete zunächst eine neue Lebensweise in Afrika selbst und breitete sich dannüber die ganze Welt aus, wobei sie alle anderen Populationen vonHomo verdrängte und Nachkommen hinterließ, die heute alsHomo sapiens bekannt sind (vgl. Abbildung 1.1). Die Angehörigen dieser neuen Art hatten verschiedene neue Körpereigenschaften, darunter etwas größere Gehirne. Aber am auffälligsten waren ihre neuen kognitiven Fertigkeiten und die Gegenstände, die sie herstellten:

13• Sie begannen mit der Herstellung einer Vielzahl neuer Steinwerkzeuge, die jeweils besonderen Zwecken angepaßt wurden, wobei jede Population dieser Art ihre eigene»Industrie« des Werkzeuggebrauchs schuf– mit dem Ergebnis, daß einige Populationen schließlich so etwas wie computergesteuerte Produktionsprozesse erfanden.

• Sie begannen mit der Verwendung von Symbolen zur Kommunikation und zur Strukturierung ihres Soziallebens, unter denen sich nicht nur

Abbildung 1.1 Eine vereinfachte Darstellung des zeitlichen Maßstabs menschlicher Evolution.

14sprachliche, sondern auch künstlerische Symbole in Form von Steingravuren und Höhlenzeichnungen fanden– was schließlich darin mündete, daß einige Populationen Schrift, Geld, mathematische Notationen und Kunst erfanden.

• Sie gründeten neue Arten gesellschaftlicher Praktiken und Organisationen, die alles mögliche– von der zeremoniellen Bestattung der Toten bis zur Domestizierung von Pflanzen und Tieren– umfaßten, so daß einige Populationen schließlich formalisierte Institutionen der Religion, der Regierung, des Erziehungswesens und des Handels schufen.

Das Grundrätsel besteht nun in folgendem: Die sechs Millionen Jahre, die uns Menschen von anderen Menschenaffen trennen, sind, evolutionär betrachtet, eine sehr kurze Zeitspanne, vor allem im Hinblick darauf, daß der moderne Mensch mit dem Schimpansen ungefähr 99 Prozent des genetischen Materials teilt. Es handelt sich dabei um denselben Grad von Verwandtschaft wie zwischen anderen eng verwandten Gattungen, z. B. zwischen Löwen und Tigern, Pferden und Zebras oder Ratten und Mäusen.1 Unser Problem ist also ein zeitliches. Es stand einfach nicht genügend Zeit für normale biolo