: Astrid Waliszek
: Der Fisch ist ein einsamer Kämpfer Roman
: Hoffmann und Campe Verlag
: 9783455811100
: 1
: CHF 13.90
:
: Erzählende Literatur
: German
: 176
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Auf einmal fand ich, dass es mir gut geht.' Topolina liebt die Kunst. Sie liebt Bücher. Aber Menschen liebt sie nicht. Die frühere Künstlerin arbeitet als Putzfrau in der Wohnung einer Pariser Familie. Eines Tages findet sie dort unter der Bettdecke eine Nachricht des kleinen Sohnes für sie. Es ist nur eine harmlose Bitte, doch sie stellt Topolinas Leben auf den Kopf. 'Guten Tag, Madame, kannst du bitte das Wasser von meinem Fisch auswechseln? Ich kann das nicht.' Mit dieser Botschaft beginnt der Briefwechsel zwischen Topolina und dem achtjährigen Sohn ihrer Arbeitgeberin, von dem sie nur ein Foto kennt. Sie verstecken ihre Zettel füreinander an wechselnden Orten - unter dem Kopfkissen, in der Waschmaschine, in Hosentaschen. Obwohl sich Topolina von den Menschen zurückgezogen hat, erobert der Junge ihr Herz und bringt sie sogar dazu, ihr künstlerisches Schaffen wieder aufzunehmen. Bald wird Topolina nur noch von einem Wunsch beseelt: den Jungen leibhaftig kennenzulernen. Doch für dieses Vorhaben muss sie über einen dunklen Schatten springen, den die Vergangenheit auf ihr Leben wirft.

Astrid Waliszek, im Elsass geboren und aufgewachsen, drehte Dokumentarfilme und praktiziert heute als Psychoanalytikerin in Paris. Der Fisch ist ein einsamer Kämpfer ist ihr Romandebüt, das in Frankreich gefeiert wird.

Ich liebe niemanden. Außer mich selbst, wennüberhaupt. Das wechselt von Tag zu Tag. An einem ist es erträglich, am nächsten bin ich von mir gelangweilt. Mit mir zu leben ist anstrengend, mit den anderen zu leben wird mir schnell unerträglich. Dabei interessieren sie mich. Ich finde gern heraus, wie sie leben und was sie denken, warum sie so leben, wie sie leben. Auch, wen sie lieben. Ich würde zum Beispiel gern wissen, wie sie es anstellen, zu lieben oder zu leiden, wenn man sie nicht liebt.

Das sehe ich bei den Leuten, für die ich arbeite. Vormittags gehe ich putzen, nachts arbeite ich in einer Bar. Ich mache Sandwichs.

Davor war ich Malerin und Bildhauerin.

Aus dieser Zeit ist mir der Sinn für Kleidung, für ihre Struktur geblieben. Auch dafür, wie sie sich anfühlt oder anhört. Das Gewebe der feinen, einheitlich weißen Wolle meiner Stola löst in mir ein Gefühl aus, das vom Hals auf den ganzen Körper ausstrahlt, sobald sich bei einer Bewegung die Falten verschieben. Der festonierte und mit rotem Faden hervorgehobene Saum an einer meiner Westen weckt unendliches Wohlbehagen, wenn meine Finger ihn betasten und darüberstreichen. Kleidung ist für mich wie eine verwirrende Haut, mit der ich endlos spiele: DieÜberraschung des leichten Schauers warmer Seide oder die leichte Berührung einesÄrmels auf meinem nackten Arm lassen mein Herz vor Glück schneller schlagen. Die Falten, das Wogen von indischen Stoffenüber meinen Beinen, die winzigste Wahrnehmung desüber die Hüfte gleitenden Knotens einer Tunika erregen mich, als würde ein Fieberwind durch meinen Körper streichen.

Madame ist reizend. Ich sage»Madame«, nicht»Madame Léger«, weil es nicht dasselbe ist.Über»Madame« freut sie sich, und ich behalte meine Arbeit, obwohl ich spüre, dass es für sie schwierig ist. Dass sie sich sagt:»Eigentlich könnte ich die Hausarbeit auch selbst machen.«

Ich arbeite gerne dort. Ich mag den Geruch der Wäsche in der Maschine. Wenn sie wäscht, nicht wenn sie trocknet: Wenn sie trocknet, ist auch ihr Geruch trocken, fast salzig. Der Geruch der schmutzigen, nassen, mit Seifenlauge durchtränkten Wäsche ist hingegen ein schwerer Geruch, der mich schwindlig macht. Ein Geruch von schmutzig und sauber zugleich.

Ich bin neugierig auf Leute. Für Madame Léger mache ich Sachen, die ihr Spaß machen, Sachen, bei denen ich mir sicher bin, dass sie sie bemerkt. Wie ihre Kosmetika der Größe nach aufzustellen: Das bringt sie zum Lachen. Sie hat mir gesagt, ich soll sie nach ihrer Funktion ordnen, aber ich weiß, dass sie als Erstes immer das Flakon ganz rechts nimmt, es reizt sie ein bisschen, weil es nicht so geordnet ist, wie sie es gern hätte – auf einer Seite die Mittel für das Gesicht, dann die für den Hals, die Augen und die Lippen. Auf der anderen Seite die für den Körper und dahinter alles für die Haare, so wie sie es täte, wenn sie sie selbst einräumen würde.

Sie denkt, ich benutze keine Kosmetikprodukte. Es stimmt, ich bin nachlässig angezogen, unfrisiert, nicht geschminkt. Dabei hat sie mich nur zweimal gesehen. Ich habe die Schlüssel, und sie schreibt mir ein paar Zeilen:Vorratsschrank aufräumen oderBesteckkasten sauber machen.

Ich schreibe ihr auch. Sie hat extra eine Schiefertafel gekauft. Das ist praktisch.

Ich arbeite gerne bei Madame, weil ich das Gefühl habe, zu Hause zu arbeiten, nur dass es nicht mein Zuhause ist. Bei mir ist es nicht so ordentlich, aber zu mir kommt niemand. Ich bin gern an Orten, wo Leute leben: Madame hat einen Mann und Kinder. Ich räume die Sachen der Kinder auf, wenn ich kann, aber meistens ist alles, was sie betrifft, erledigt. Es gibt nur wenig Spuren von ihnen, außer Sachen zum Bügeln.

Ich habe noch nie irgendwem erzählt, dass ich niemanden liebe. Immerhin liebe ich manche Bücher. Auch Fotos. Muybridge liebe ich sehr. Ich finde, seine Fotos sind richtig lebendig. Sie sind sogar das Lebendigste, was ich kenne. Ein schreitender Mann. Die Bewegung ist aufgegliedert und jeder Muskel abgebildet.

Früher waren die Bistros mein bevorzugter Lebensort. Ich traf dort Freunde, wir lebten nachts. Unser Stammbistro war der Fernfahrertreff in der Rue des Plantes. Fernfahrer gab es dort keine, es gab vor allem abgebrannte Künstler und die ganze Fauna, die nachts lebt, von der man nicht weiß, was sie tagsüber treibt. An der Wand hing ein Gemälde von Alberto Giacometti. Giacometti sah ich mir in Beaubourg an, besonders gern seinenSchreitenden Mann. Er ist das Gegenteil von Muybridges Mann, er besteht nur aus Strichen: kein Muskel, kein Körper. Ich ging um ihn herum: Ich weiß noch, wie ichüberlegte, dass es schwierig ist, um diesen schreitenden Mann herumzuschreiten, nicht weil er nicht still stehen würde, GiacomettisSchreitender. Es ist eher so, dass er den Betrachter beeindruckt und auf Abstand hält. Ich mochte auch das Porträt seiner Mutter: Es ist verschwommen, wie eine Frau, die man nicht darstellen kann. Striche und noch mehr Striche: Man bekommt einen Eindruck, aber nichts, woran sich irgendeine Realität festhalten könnte.

Ich habe immer für Museen geschwärmt.

Die Wirtin des Fernfahrertreffs hatte das Gem&au