: Alfred Döblin
: Der schwarze Vorhang Roman
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104029184
: 1
: CHF 6.00
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 152
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine Wiederentdeckung der frühen Moderne »Gar keine Handlung; nur seelischer Entwicklungsgang«, schrieb Döblin über seinen ersten Roman ?Jagende Rosse?. Und auch in seinem zweiten Roman ?Der schwarze Vorhang?, der mit einem blutigen Lustmord endet, geht es vor allem um seelische Abgründe. Döblins psychiatrischer Blick richtet sich dabei mit Hilfe der modernsten Erzähltechniken seiner Zeit auf eine taumelnde Figur, die sich nach Liebe sehnt und doch immer nur um sich selber kreist. Mit einem Nachwort von Sascha Michel

Alfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, arbeitete zunächst als Assistenzarzt und eröffnete 1911 in Berlin eine eigene Praxis. Döblins erster großer Roman erschien im Jahr 1915/16 bei S. Fischer. Sein größter Erfolg war der 1929 ebenfalls bei S. Fischer publizierte Roman ?Berlin Alexanderplatz?. 1933 emigrierte Döblin nach Frankreich und schließlich in die USA. Nach 1945 lebte er zunächst wieder in Deutschland, zog dann aber 1953 mit seiner Familie nach Paris. Alfred Döblin starb am 26. Juni 1957.

Wie im ersten Träumen, wenn der Leib Kissen und Decke nicht empfindet, das Seelchen anhebt, sich sacht um einen Pfahl zu schwingen, rascher, rascher, holla, hurra husch, und die Besinnung an einem Wollfaden gebunden folgt, sich verrennt, verstrickt, taumelt, fällt, einschläft, ja einschläft, – also verstricke ich mich nunmehr in mein Gleichnis. Was bei solcher wahrhaft homerischen Breite nicht weiter verwundert. Wehmütig erinnert es mich an einen Mann, der lange Monate Ziegelsteine kaufte, so viele, schöne, blanke Ziegelsteine, daß er über dem Anhäufen, Verschuppen und Bewachen seinen Häuserbau vergaß, immer wieder nachsann über das Vergessene, schließlich einen Heringsladen eröffnete.

Es war aber ein plumper, breitschultriger Mensch mit eingesunkenem Rücken, dessen Seele sich so verwirrend schnell erregte, – ein braunhaariger, sehr junger Mensch in einem großen Zimmer. Das schien so leer und weit in dem gelblich-weißen Licht der Lampe vor Johannes’ Sitz; denn die Schatten reckten sich lang und wollten sich schier körperlich, stark und schwer von Tischen, Stühlen, Spinden abstoßen ins Leere.

Die Geräte und Gegenstände standen an den Wänden, in Zimmermitten unbewegt und in sich gezogen da und duldeten das leichte Licht und die Schatten.

»Hier genoß er seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde«: Mit zusammengebissenen Zähnen las, würgte, kaute, schluckte er an dem Worte. Sein Grimm kletterte an dem Satze hinauf, kauzte oben auf der Stange und machte Männchen; und alles war unten geblieben und sah hinauf. Leise zogen sich seine Muskeln zusammen, um das ansteigende Weh zu zerdrücken und zu übertönen.

Es wäre eine leichte Fortführung, wenn die Spannung auch auf seine Finger überstrahlte, wenn der unglückselige junge Mann nun nach dem Buch, dem Unheilerreger, krampfte und ihn mit wiegenden Händen, – etwa, während sich die Lippen mit einem »Zucken« öffnen, – in das Zimmer und die Schatten schleuderte. Dieser Mann ist ja nur erdacht, und für erträumte Dinge gelten keine Naturgesetze, die so fremdartig putzen würden, wie eine graue Perücke den Kindskopf eines Dirnchens.

Noch ist die Seele keine Mondfinsternis und ließe sich berechnen. Wenn ich gelaunt bin, fallen alle Steine nach oben, singen alle meine kleinen Hexchen: fair is foul and foul is fair.

Aber Johannes liebte dieses Buch allzusehr, weil es einen braunmarmorierten Deckel und wunderschönes gelbes Papier hatte und über die gelbe Ebene sich ein schwarzes Buchstabenheer wälzte, bald in dicht geschlossenen Zügen, bald einzeln und in Abteilungen, frech wie Jäger ausschwärmend. Und jetzt in dem scharfen Licht trug jeder Buchstabe am Rande rasch aufhuschende Purpurfarben, als ob sich der gebannte Geist der Worte befreien und dem Schwesterlicht anvertrauen wollte.

Sondern der Krampf dehnte und zog sich ganz auf das Zwerchfell; Johannes breitete die Arme mit den losen Ärmeln über das offene Buch und fing, indem er den Kopf in das Dreieck der verschränkten Arme legte, auf die hergebrachte Art zu schluchzen an. Das war ein immer erneutes Glucksen, Schnaufen und Zusammenfahren. Die Tränen fielen auf das Buch und das Wasser floß aus den Augen, rann durch den Tränenkanal, die Nasengänge in den Rachen, daß Johannes schluckte und das Salz schmeckte. Die Spannung erschöpfte