: Achim Landwehr
: Geburt der Gegenwart Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104029405
: 1
: CHF 14.00
:
: Neuzeit bis 1918
: German
: 448
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wenn die Zukunft vorherbestimmt ist, hat die Gegenwart keine Bedeutung - über die Entstehung unseres modernen Zeitempfindens Ein Leben ohne Termine ist heute kaum vorstellbar. Zeit ist ein kostbares Gut, das verwaltet und genutzt sein will. Doch die Zeit ist vor allem eine Idee. Lange glaubte man, die Apokalypse und das Reich Gottes stünden kurz bevor - wozu also die Gegenwart gestalten, da man damit die Zukunft doch nicht verändern kann? Der renommierte Historiker Achim Landwehr erzählt, wie sich diese Zeitvorstellungen im 17. Jahrhundert wandelten und Gegenwart und Zukunft allmählich an Bedeutung gewannen: Kalender boten nun Platz für persönliche Einträge, Zeitungen berichteten vom Hier und Heute, und mit Versicherungen sorgte man für das Morgen vor. Die überraschende Geschichte von der Geburt eines neuen Zeitwissens, durch das sich die Welt ebenso grundlegend wandelte wie durch die großen Entdeckungen von Galilei bis Newton.

Achim Landwehr, geboren 1968, lehrt Geschichte der Frühen Neuzeit an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seine Einführung ?Historische Diskursanalyse? (2009) ist ein wichtiges Standardwerk für Studierende. Bei S. Fischer erschien von ihm 2014 ?Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert?. 2012 erhielt er für seinen Beitrag ?Die Kunst, sich nicht allzu sicher zu sein: Möglichkeiten kritischer Geschichtsschreibung? den Essaypreis der Zeitschrift »Werkstatt Geschichte«. Er betreibt einen Geschichtsblog unter www.achimlandwehr.wordpress.c m

Finale Kalkulationen


Es gab nicht nurein Ende. Es gab eine Vielzahl an Endzeitvorstellungen, die zu unterschiedlichen Zeiten vorherrschten und die vor allem den jeweiligen Bedürfnissen unterschiedlicher konfessioneller und sozialer Gruppen angepasst waren. Das Ende der Welt, wie man sie kannte, war zwar stets der zentrale Bestandteil – darüber hinaus gab es aber große Meinungsverschiedenheiten darüber, wann das Ende kommen würde, wie es konkret vonstattengehen sollte und wer auf welche Weise davon betroffen wäre.[91]

Mathematische Annäherungen können verdeutlichen, wie bedeutsam und konkret für die Zeitgenossen des16. und17. Jahrhunderts das Ende der Welt war. Zwar wurde regelmäßig wiederholt, dass die näheren Umstände zukünftiger Entwicklungen mehr als ungewiss seien, und es war theologisch recht heikel, sich in entsprechenden Mutmaßungen zu ergehen. Doch war das Verlangen, Näheres über das drohende Finale zu erfahren, unübersehbar. Hierauf verwendeten die Menschen eine nicht unerhebliche Menge an Zeit und Energie. Grundlage war die weithin geteilte Überzeugung von der begrenzten Zeit, die der Welt überhaupt zur Verfügung stand. Auf der Grundlage biblischer Angaben und heilsgeschichtlicher Überlegungen wurden für die Dauer der Schöpfung in etwa6000 Jahre veranschlagt – abgeleitet aus den sechs Schöpfungstagen sowie aus dem Umstand, dass für den Schöpfer tausend Jahre wie ein Tag seien (2. Petrus3,8). Aufgrund der – sehr schwierigen – Summierung alttestamentarischer Generationenfolgen kam man auf einen Schöpfungszeitpunkt, der circa4000 Jahre vor Christi Geburt gelegen haben musste, so dass der Welt nach dieser Zeitenwende noch etwa2000 Jahre zur Verfügung standen.

Solche Berechnungen zum Alter und zur noch währenden Dauer der Welt wurden auch jeder Käuferin und jedem Käufer eines Kalenders mit der größten Selbstverständlichkeit präsentiert. Denn zu den standardisierten Basisinformationen eines Kalenders gehörte die heilsgeschichtliche Einordnung des jeweiligen Jahres. Im Kalender des Mathematikers und Astronomen David Froelich (15951648) für das Jahr1651[92] findet sich beispielsweise folgende, in dieser Form typische Zusammenstellung:

»Im Jahr nach der heiligen Geburt deß Sohns Gottes1651 [Jahre].

Von Erschaffung der Welt5600 [Jahre].

Von der Sündflut3944.

Vom Leiden/Sterben und Aufferstehung Christi1618.

Vom Anfang des Julianischen Calenders1695.

Von dem Newen und durch den Pabst GregoriumXIII. corrigirten Calender69.

Von der beharrlichen Regierung des H. Römischen Teutschen Reichs durch die hochlöblichsten Oesterreichischen Ertzhertzöge das213.

der Kayserlichen Regierung FerdinandiIII. das15.

der Königlichen Ungerischen Crönung das26.

der Böhmischen das24.

Von Anfang des jetzigen Teutschen Krieges das33. Jahr«[93]

Insbesondere unter den Reformatoren des16. Jahrhunderts ging man jedoch davon aus, dass die letzten1000 dieser etwa6000 Jahre währenden Haltbarkeit um der Gnade willen verkürzt würden (Matthäus24,22), so dass das Ende der Welt nicht erst2000 Jahre nach Christi Geburt, sondern bereits jetzt, im16. Jahrhundert stattfi