Eisland
Die Gräten kommen weg, dann ist es Filet. Ein halbes Jahr lang hat sie die Freundin nicht gesehen, aber nun sitzt sie endlich wieder in deren Küche und versenkt den Blick, so wie sie es sonst gewohnt war, ins verblichene Hellblau der Windmühlen auf der abwischbaren Tischdecke, während die Freundin spricht. Die Freundin hat um der fremden Fische willen Mann und Sohn zurückgelassen, als erste aus dem Ort hat sie sich dafür entschieden, weit entfernt von ihrem Leben zu leben, um den Unterhalt für das Leben zu verdienen. Das könntest du auch, sagt sie, und stellt einen Teller mit einem Stück Gans, das vom Familienessenübriggeblieben ist, auf den Tisch. Es ist ganz einfach, wiederholt sie, und sagt: Die Gräten kommen weg, dann ist es Filet. Ihre Zuhörerin tunkt ein Stück Brot in die fette Sauce, läßt den Blicküber die Windmühlen hinaus schweifen, und fängt an, darüber nachzudenken, wie das wäre, wenn sie mit ihren festen, blaugeäderten, polnischen Beinen auf einer Insel stünde. Sie findet schließlich, daß es keinen Grund gibt, der dagegen spricht– unverheiratet ist sie, und kinderlos, also frei, frei, um jeglichen Fisch auf der Welt, wo auch immer es sein mag, in Filet zu verwandeln, frei, um an jeglichem Ort in der Welt zu leben, um Geld zu verdienen zum Leben.
Auf dem Weg vom Flughafen zu den Fischen hatte sie, aus dem Busfenster blickend, Laute des Entzückens ausgestoßen und dann für kurze Momente kopfschüttelnd den Blick zur Freundin gewandt, um von ihr Bestätigung für die Schönheit dieser Landschaft zu erlangen, einer Landschaft, wie sie sie noch nie zuvor gesehen hatte. Ja was: Steine, hatte die Freundin gesagt und sich zu keiner gemeinsamen Begeisterung hinreißen lassen, sie aber hatte weiter den Kopf geschüttelt, in ungläubigem Staunen darüber, daß es eine solche Landschaftüberhaupt geben konnte, und ebensowenig glaubend, daß die Freundin nicht in der Lage sein sollte, zu sehen, was sie sah: eine Ebene, die ganz und gar schwarz war und ganz und gar leer war, so schwarz und so leer wie nichts, was sie jemals zuvor gesehen hatte, nur einzelne Felsen standen wie Zähne aus dieser Ebene heraus, alles andere war zu Boden gestürzt, und hatte das Land bis zum Horizont mit Geröll bedeckt, mit schwarzen Brocken, an denen jede Vision menschlichen Ausmaßes offensichtlich gescheitert war, diese Brocken hatten sich, wie man sehen konnte, weder umgraben, noch bebauen, ja nicht einmal beiseite räumen lassen, denn sogar die Straße, auf der der Bus fuhr, war kein freigeräumter Weg, sondern war Asphalt, mit dem man die Brocken solangeübergossen hatte, bis sich auf ihnen eine Fläche gebildet hatte, auf der man fahren konnte. Sie dachte daran, wie ihre Eltern sie früher voller Stolz allen Bekannten mit der Bemerkung vorgestellt hatten, sie sei noch Jungfrau, dieser Stolz der Eltern hatte, jeälter sie wurde, zugenommen, bis zu dem Moment, als die Eltern starben, erst die Mutter, ein halbes Jahr später der Vater. Die Jungfrau, damals schonüber dreißig Jahre alt, hatte es nach dem Tod der Eltern als Vermächtnis aufgefaßt, ihre Jungfräulichkeit Jahr um Jahr weiter zu steigern, indem sie die Zeit vergehen ließ, ohne an ihrem Leben etwas zuändern, und wenn es ihr dabei um eine Steigerung bis in die Heiligkeit hinein gegangen sein sollte, so war ihr das nicht anzusehen gewesen, denn mit niemandem hatte sie wenigerÄhnlichkeit als etwa mit der Jungfrau Maria, deren entblößter, schneeweißer Busen die Madonnenbilder wie ein Vollmond erleuchtete. Ihren eigenen Busen verbarg sie unter einem rosaroten Kittel, dessen Stoff glänzte und immer leicht elektrisch aufgeladen war, billiger Stoff, der knisterte, wenn sie ging, und sich hin und wieder funkenschlagend entlud. Und was sie unter dem Kittel verbarg, waren nicht Vollmonde, sondern nur zwei Hautfalten, die wie ausgepreßt an ihrem Körper hingen, ihr Hinterteil war verschwindend flach, war eigentlich nichts weiter als die Teilung des Körpers in Beine, und mit den Beinen hätte sie, wie ihre Vorfahren, gut Tag für Tag in der Sommerhitze stehen und Heu machen, oder mit ihren Armen Kälber aus Kühen herausziehen können– keineswegs jedoch mit alldem einen himmlischen Bräutigam derart reizen, daß er einem irdischen Ehemann hätte zuvorkommen und auf diese Weise ewige Jungfernschaft stiften mögen. Draußen fegte ein Schneesturmüber die Steinwüste und bestäubte die schwarzen Brocken von einer Seite mit Weiß, so daß ihr Volumen noch plastischer erschien als zuvor, und die Staffelung der Steine, von ganz nah bis hin zum Horizont, noch eindrücklicher hervortrat. Die Polin wendete für einen kurzen Moment das Gesicht von der Landschaft ab, ihrer Freundin zu, und schüttelte abermals, fassungslos vor Entzücken, den Kopf. Ja was, sagte die Freundin und zuckte mit den Schultern: Schnee.
Endlich ist sie den Sommer losgeworden, und mit ihm die Hitze, und mit der Hitze den Schweißgeruch, der sich im rosaroten glänzenden Stoff ihres Kittels festgebissen hatte. Auf dieser Insel wachsen nicht einmal Bäume, weil es zu kalt ist für Bäume, und weil es keine Bäume gibt, gibt es nichts, worin sich der Wind fangen könnte, und so fährt er schneidendüber die Insel. Immer schon hat sie gedacht, daß die Leute, die sterben, sich in Wind verwandeln, und so mangelt es ihr hier nie an Gesellschaft, die Toten fliegen um sie herum, während sie spazierengeht, und wenn ihr kalt wird, legt sie die Kleider ab, beschwert sie mit einem Brocken, und steigt in eines der unzähligen, mit brodelndem Wasser gefüllten Löcher, durch die man hierzulande wie durch Augen direkt in das Innere der Erde hineinsehen, und in manche eben sogar hineinsteigen kann, wenn man ein heißes Bad nehmen möchte. Sie fädelt ihre Füße in das Gehirn der Erde, streckt die Beine aus in Richtung Magma, und erholt sich so, den Kopf im Schnee, von der Arbeit im Schlachthaus der Fische.
Im billigen Wohnheim der Fischfabrik, in dem ihre Freundin