: Jenny Erpenbeck
: Heimsuchung Roman
: Knaus
: 9783641134778
: 1
: CHF 9.80
:
: Erzählende Literatur
: German
: 192
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein Haus an einem märkischen See, in dem ein ganzes Jahrhundert wütet: Es ist der Schauplatz für fünfzehn Lebensläufe, Geschichten, Schicksale, von den Zwanzigerjahren bis heute. Seine Bewohner erleben die Weimarer Republik, das Dritte Reich, den Krieg und dessen Ende, die DDR, die Wende und die Zeit der Nachwende. Jedem einzelnen Schicksal gibt Jenny Erpenbeck eine eigene literarische Form, jedes entfaltet auf ganz eigene Weise seine Dramatik, seine Tragik, sein Glück. Ein Panorama des letzten Jahrhunderts von beeindruckender Wucht.

Jenny Erpenbeck, geboren 1967 in Ost-Berlin, debütierte 1999 mit der Novelle 'Geschichte vom alten Kind'. Es folgten zahlreiche Veröffentlichungen, darunter Romane, Erzählungen und Theaterstücke. Von Publikum und Kritik gleichermaßen gefeiert, wurde sie vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Thomas-Mann-Preis, dem Uwe-Johnson-Preis, dem Hans-Fallada-Preis und dem Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland. Auch international gilt Erpenbeck als wichtige literarische Gegenwartsautorin. So wurde sie u.a. mit dem britischen Independent Foreign Fiction Prize (inzwischen bekannt als International Booker Prize) und dem italienischen Premio Strega Europeo geehrt. Ihr Roman 'Heimsuchung' wird vom Guardian auf der Liste der '100 Best Books of the 21st Century' geführt. Die amerikanische Übersetzung ihres jüngsten Romans 'Kairos' war in den USA für den National Book Award nominiert und wurde 2024 mit dem International Booker Prize ausgezeichnet. Erpenbecks Werk erscheint in über 30 Sprachen.

Der Großbauer und seine vier Töchter

Wenn eine heiratet, darf sie sich ihr Brautkleid nicht selbst nähen. Auch in ihrem eigenen Haus darf das Brautkleid nicht hergestellt werden. Auswärts wird es genäht und beim Nähen darf keine Nadel zerbrechen. Der Stoff für ein Brautkleid darf beim Nähen nicht gerissen, er muß geschnitten werden. Ist beim Zuschneiden ein Fehler passiert, darf das Stück Stoff nicht mehr verwendet werden, es muß ein neuer Streifen vom gleichen Stoff nachgekauft werden. Die Schuhe für die Hochzeit darf die Braut sich nicht von ihrem Bräutigam schenken lassen, sondern muß sie sich selber kaufen, und zwar von den Pfennigen, die sie zuvorüber lange Zeit hinweg gesammelt hat. Die Hochzeit darf nicht in der heißesten Zeit, also nicht an den Hundstagen stattfinden, aber auch nicht im wetterwendischen Monat April, die Wochen des Aufgebots vor der Hochzeit dürfen nicht auf die Marterwoche vor Ostern fallen, und bei der Hochzeit selbst soll Vollmond sein, oder wenigstens zunehmender Mond, der beste Monat für eine Hochzeit ist Mai. Einige Wochen vor dem Hochzeitstermin wird das Aufgebot bestellt und im Schaukasten ausgehängt. Die Freundinnen der Braut flechten Blumengirlanden und umkränzen damit den Kasten. Ist das Mädchen im Dorf beliebt, werden es drei oder mehr Ranken sein. Eine Woche vor dem Hochzeitstag wird mit dem Schlachten und Backen begonnen, aber die Braut darf auf keinen Fall ein Feuer im Ofen flackern sehen. Am Tag vor der Hochzeit kommen nachmittags die Kinder des Dorfes und poltern, sie werfen Geschirr in den Torweg, so daß es zerbricht, aber kein Glas, und bekommen von der Hochzeitsmutter Kuchen gereicht. Am Polterabend bringen die Erwachsenen ihre Geschenke, sie sagen Gedichte auf und nehmen am Polterabendschmaus teil. Am Polterabend dürfen die Lichter nicht flackern, das bringt Unglück. Die Scherben am Torweg fegt die Braut am andern Morgen zusammen und wirft sie in eine Grube, welche der Bräutigam ausgehoben hat. Danach wird die Braut von ihren Freundinnen für die Hochzeit geschmückt, sie trägt Myrtenkranz und Schleier. Tritt das Brautpaar aus dem Haus, halten zwei Mädchen ein Blumengewinde, sie senken es nieder, das Brautpaar steigt darüber hinweg. Sodann erfolgt die Abfahrt zur Kirche. Die Pferde haben an den Außenseiten des Zaumes zwei Bänder, ein rotes für die Liebe, und ein grünes für die Hoffnung. Die Peitschen zeigen dieselben Bänder. Die Brautkutsche ist mit einer Ranke von Buchsbaum geschmückt, manchmal auch von Wacholder. Die Brautkutsche fährt als letzte hinter den Kutschen der Gäste, sie darf nicht stehenbleiben und auch nicht umkehren. Der Brautzug muß, wenn irgend möglich, vermeiden, am Friedhof vorüberzufahren. Die Brautleute dürfen sich während der Fahrt nicht umsehen. Regnen darf es, aber schneien sollte es nicht während der Fahrt. Soviel Flocken Schnee,/ soviel Ach und Weh. Auch darf die Braut vor dem Altar nicht ihr Taschentuch fallenlassen, sonst gibt es in der Ehe viel Tränen. Auf dem Heimweg fährt der Brautwagen den anderen voran, er muß schnell fahren, sonst geht es in der Ehe den Krebsgang. Betritt das Brautpaar die Türschwelle des Hochzeitshauses, muß esüber Eisen, alsoüber eine Axt oder ein Hufeisen, treten. Beim Hochzeitsmahl sitzt das Brautpaar in einer Ecke, dem Brautwinkel, den es nicht verlassen darf. Die Stühle des Brautpaares sind mit Efeuranken geschmückt. Nach dem Mahl schleicht ein Bursche unter den Tisch und zieht der Braut einen Schuh ab, der zur Versteigerung kommt und am Ende vom Bräutigam ersteigert werden muß. Der Erlös kommt den Kochfrauen zu. Um zwölf Uhr nachts wird unter Singen der Schleier zerrissen und einem jeden Gast ein Stück davon als Andenken mit auf den Weg gegeben. Nach der Hochzeit bezieht das junge Paar die neue Wohnung. Dort haben gute Freunde ein Päckchen mit Brot, Salz und etwas Geld auf den Ofen gelegt, damit es nie an Nahrung und Geld fehle. Das Päckchen muß ein ganzes Jahr unberührt da liegenbleiben. Die zwei Worte, die bei einer Heirat am wichtigsten sind, lauten: Darf und muß, und darf, und muß, und darf, und muß. Die erste Arbeit der jungen Frau in der neuen Wohnung ist es, Wasser zu holen.

Der Schulze hat vier Töchter: Grete, Hedwig, Emma und Klara. Wenn er am Sonntag mit seinen Töchtern in der Kutsche durchs Dorf fährt, zieht er den Pferden weiße Strümpfe an. Der Vater des Schulzen war Schulze, und dessen Vater war Schulze, und dessen Vater war Schulze, und immer so weiter zurück bis sechzehnhundertundfünfzig. Der König selbst hat den Vater des Vaters des Vaters des Vaters des Schulzen zum Schulzen bestellt, und deshalb zieht der Schulze, wenn er am Sonntag mit seiner mit Töchtern vollbeladenen Kutsche durchs Dorf fährt, den Pferden weiße Strümpfe an. Grete, Hedwig, Emma und Klara sitzen auf der Kutsche, die ihr Vater selbst lenkt, die Pferde gehen im leichten Trab, und wenn die Erde noch feucht ist, dauert es nicht einmal bis zur Fleischerei, bis die weißen Strümpfe der Pferde bespritzt sind. Sonntag für Sonntag kutschiert nach dem Gottesdienst der Vater seine vier Töchter vom Kirchweg auf die Hauptstraße hinunter, an Fleischerladen und Schule vorbei, vorbei an der Ziegelei, nach der Ziegelei biegt er links von der Hauptstraße ab in den Uferweg, folgt dem Uferweg in nördliche Richtung bis hin zu dem Grundstück auf halber Höhe des Sch