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Ich klingel. Obwohl ich einen Schlüssel zur Wohnung meiner Eltern habe. Ich klingel aus Prinzip. Weil ich ein Vorbild sein muss. Für meine Eltern. Denn die haben auch einen Schlüssel zu meiner Wohnung. Für absolute Notfälle. Aber an diese Absprache halten sie sich nicht. Wasärgerlich ist und störend. Und peinlich, weil, stellen wir uns mal vor, man vertraut darauf, dass die Erzeuger den Schlüssel nur für Im-Urlaub-Blumengießen-Briefkastenleeren-Stadtwerkereinlassen oder Tür-zu-Schlüssel-drin-Notfälle verwenden, und dann–Überraschung!– stehen die doch einfach mal so in der Tür, wenn man gerade was macht, was Eltern nicht mitkriegen sollen. Also so was wie Weihnachtsgeschenke verpacken oder Bikinizone enthaaren. Oder eben das, woran immer alle zuerst denken: Sex. Genau dann, wenn einer dieser raren Tage ist, ich in Stimmung, er in Stimmung, beide frei und absolut freizügig, geht mit hundertprozentiger Sicherheit die Tür auf, und ein fröhliches Mama-Rufen im Stil von»Hallo, Schatz, du, ich hab dir ein Kilo sizilianische Orangen vom Markt mitgebracht, die magst du doch so gerne« kippt einen Kübel Eiswasserüber die knisternden Funken der Leidenschaft. Keine schöne Erfahrung. Versprochen. Vorsicht also, wem man seine Schlüssel aushändigt. Ich kriege meine dummerweise nicht mehr zurück, ohne einen Eklat zu provozieren.
Ich stehe nach wie vor vor der Tür meiner Eltern und klingel nun zum dritten Mal. Endlich macht mein Vater auf.
»Warum klingelst du? Nimm doch den Schlüssel! Du hast doch einen!«, raunzt er mich an und dreht sich um. Immerhin: Die Tür hat er nicht wieder zugemacht, um mich zum Einsatz des Schlüssels zu nötigen ...
Schon klar, es ist nicht an mir (immer noch Kind, egal, wie alt ich bin) meine Eltern zu erziehen, aber ein»Hallo, schön dich zu sehen, komm doch rein« hätte ich alles in allem netter gefunden als diesen Hinweis. Mir liegt außerdem ein»Weil ich eure Privatsphäre respektiere, Gast in eurem Haus bin und mich freuen würde, wenn ihr eineähnliche Sensibilität an den Tag legen würdet, wenn ihr mich besucht« auf den Lippen, aber das lasse ich lieber, um diesen eigentlich so sonnigen Morgen nicht schon in den ersten Minuten zu ruinieren.
Mutter schießt aus der Küche und umarmt mich derart inniglich, als sei ich die verlorene Tochter, heimgekehrt nach jahrelanger Geiselhaft in einer brutalen Diktatur. Was schon ein wenig skurril ist, da wir uns gerade mal achtundvierzig Stunden nicht gesehen haben. Aber gut. Mich würde interessieren, wie meine Mutter mich behandeln würde, wenn ich tatsächlich aus dem Gulag heimkehrte ...
»Sibille, da bist du ja endlich. Schuhe ausziehen, Hände waschen, ich bin fast fertig.«
Ende der Illusion, dass mein Auftauchen sie in besinnungslose Freude versetzt haben könnte.
»Mama, ich bin ...«
»Mir ist egal, wie alt du bist, die Straßen werden nicht sauberer, die Menschen nicht gesünder, also ...«
Ihr Blick wandert vorwurfsvoll zu meinen Füßen und wird dort bleiben, bis ich ihren Wünschen nachgekommen bin.
Ich habe meine komplette Jugend versucht, mich gegen diese charmante Begrüßung und andere mütterlicheÜbergriffe zu wehren. Vergeblich. Nicht zuletzt, weil ich meine Mutter dann doch zu lieb habe, um ihr wirklich in aller Klarheit zu sagen, wie ich das finde. Und mich endlich von ihr und ihrer Dreckphobie, die irgendwie auf michübergegangen ist, zu emanzipieren. Ich habe mal gelesen, dass man genauso lange braucht, sich von einer Sucht zu befreien, wie man süchtig war. Der Vergleich hinkt zwar ein wenig, aber irgendein Datum muss ich mir ja setzen, um endlich erwachsen zu werden. Wenn ich also exakt die Zeit, die ich mit meinen Eltern zusammengelebt habe, nicht mehr mit ihnen zusammenlebe, sollte ich noch mal einen ernsthaften Versuch machen. Das wäre dann mit achtunddreißig. Noch drei Jahre. Die Zeit läuft, Mama.
Zum Glück werde ich nicht nur von Mutters Hygienewahn in Empfang genommen, sondern auch von dem verlockenden Duft nach frischem Brot, sonst wäre ich wohl sofort wieder umgedreht. Brot macht Mama zu besonderen Anlässen nämlich selbst. Dass ich ein besonderer Anlass bin, versöhnt mich fast schon wieder mit der Begrüßung.
Ich gehe also gut gelaunt ins kombinierte Wohn-Esszimmer. Der Tisch biegt sich unter dem, was meine Mutter als Minimalausstattung für Samstagsfrühstücke betrachtet. Ich bin von den Ei-Variationen, den sieben Sorten Marmelade, dem noch immer dampfenden Brot und dem goldigen Schimmer der Landbutter, die Mutter auf dem Bauernmarkt kauft, weil sie so schmeckt wie»früher«, derart abgelenkt, dass ich die drohende Gefahr nicht spüre.
»Und, wie geht’s im Geschäft?«, will mein Vater wissen. Mehr aus Routine, weniger aus echtem Interesse.
Ich setze mich zu ihm an den Tisch und schnappe mir eine Scheibe Brot. Großartig, noch warm. Butter drauf. Und dann Marmelade.
»Gut. Sommergrippe ...«
»Und sonst?«
»Gut.«
Erdbeer-Banane. Lecker.
»Aha. Dann hat er endlich ...«
Ich schlucke. Nicht nur, weil mein Mund voll ist.»Nein.«
Das können nur meine Eltern: Fragen nach dem beruflichen Fortkommen derart offensichtlich als Anlauf nutzen, um mit beiden Beinen ins private Fettnäpfchen zu springen.
»Aber er wird doch?«
»Du, frag ihn doch einfach.«
Mein Vater ist immun gegen Ironie, aber ich versuche es immer wieder. Mit dem immer gleichen Ergebnis.
»Meinst du wirklich? Ich könnte da schon mal ein bisschen ... so von Mann zu Mann.«
»Papa, das war ein Scherz.«
»War nicht lustig.«
Worum es bei dieser ausgesprochen sinnvollen Unterhaltung geht? Um meinen Freund Matthias, der gerade– nie hätte ich gedacht, dass ich ihn darum beneiden würde– mit seiner Handballmannschaft auf dem Weg zu einem Auswärtsspiel ist.»Deinen Dauerfreund« nennen ihn meine Eltern. In der Beurteilung seiner Persönlichkeit schwanken sie zwischen Hoffnung– irgendwann muss er sich ja mal zu dem alles entscheidenden Schritt durchringen und unsere Beziehung»legalisieren«– und Ablehnung, denn wer es nach drei Jahren nicht geregelt bekommt,