: Rotraud A. Perner
: Die reuelose Gesellschaft
: Residenz Verlag
: 9783701743735
: 1
: CHF 11.70
:
: Angewandte Psychologie
: German
: 200
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Es existieren Wege zu einer besseren, humaneren Gesellschaft.Wir leben in einer Gesellschaft, in der Korruption, Betrug und Gewalt, rücksichtsloser Karrierismusund grenzenlose Gier von vielen unhinterfragt akzeptiert werden. Doch muss es so sein? Wo ist das individuelle und kollektive Verantwortungsgefühl geblieben? Wieso existiert immer weniger Unrechtsbewusstsein? Rotraud A. Perner begibt sich auf die Suche nach dem verlorenen Mut zur Verantwortung. Sie analysiert die Ursachen und beschreibt die Wege zu einer besseren, humaneren Gesellschaft. Perner hat nicht nur eine der spannendsten Analysen der heutigen Zeit geschrieben, sondern zeigt die reinigende Kraft der Reue und die Vielfalt der Möglichkeiten einer Kultur der Wahrhaftigkeit auf.

Rotraud A. Perner ist Juristin, Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin und absolvierte postgraduale Studien in Soziologie und evangelischer Theologie. Sie lehrt Gesundheitskommunikation, Gewaltprävention, Interpersonelle Kommunikation und die von ihr entwickelte Methode der PROvokativpädagogik u. a. an der Donau-Universität Krems. Zuletzt erschienen: 'Der erschöpfte Mensch' (2012).

Das Zeitalter der Seelenvergiftung


»Sich des Unbewussten bewusst werden« heißt, die Verdrängungen und Entfremdungen von mir, und damit von dem Fremden, zuüberwinden. Es bedeutet aufzuwachen, Illusionen, Fiktionen und Lügen abzuschütteln und die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist.

ERICH FROMM1

Körper, Seele und Geist sind eine Einheit; sie beeinflussen einander gegenseitig. Zu dieser»ganzheitlichen« Sichtweise hebt der Psychologe Peter Orban als Charakteristikum der philosophischen Medizin hervor, dass aus ihrer Sicht der Weg der Krankheit von oben nach unten geht– von der Seele in den Körper:»Nicht in einem gesunden Körper wohne auch eine gesunde Seele, sondern eine gesunde Seele ist auch verantwortlich dafür, dass auch der Körper gesund ist«, schreibt er, und:»Ein kranker Leib freilich istimmer ein Hinweis darauf, dass die Seele ein Problem hat«2 und, ergänze ich, Energie und damit Immunkräfte verliert.

Aber, so Orban, nicht jedes Problem fällt in den Körper und produziert dort ein Symptom, sondern es kann ebenso in Handlungen stecken bleiben; dann sei eben der Körper gesund, schreibt er, und das Handeln krank. Daher gelte es, die Seele zum Sprechen zu bringen. Das setze eine Suchbewegung voraus und eineÜbersetzungsleistung3 und, setze ich aufklärend hinzu, diese beiden Fähigkeiten müssen erst erlernt werden. Man braucht dazu eine bestimmte Art, von außen nach innen zu schauen– und dies lernt man meist im Dialog mit einem psychotherapeutischen oder auch theologischen Seelsorger, sofern Letzterer nicht darauf versessen ist, Scham- und Schuldgefühle auszulösen. (Bei Psychotherapeuten wäre das ein grober Kunstfehler, bei Geistlichen hängt es von der Ideologie des jeweiligen Religionsbekenntnisses ab, ob dieses nämlich auf Befreiung oder Unterwerfung abzielt.)

Seh-Kraft


Es gibt viele Arten, wie man sehen kann. Meist wird einem das bewusst, wenn man Autofahren lernt: Da benötigt man die»zweite Aufmerksamkeit«– ich spreche von ihr als dem»Panorama-Blick«–, mit der man das Blickfeld erweitert, gleichsam die Augenachsen parallel stellt, anstatt sie auf einen Fokus zu verengen; das muss man aber wiederum dann tun, wenn etwa ein Kind die Fahrbahn betritt und man nun besonders vorsichtig, besser gesagt: voraussichtig, dessen mögliches unbedachte Spontanverhalten erahnen sollte.

Es gibt viele Arten, wie man sehen kann.


Es gibt aber auch den»diagnostischen Blick«, mit dem man Stimmungs-, Antriebs- oderüberhaupt Gesundheitsveränderungen feststellen kann, vorausgesetzt, man hat diese Begabung entwickelt. Die meisten Angehörigen von Gesundheitsberufen erwerben diese Kompetenz im Laufe ihrer Praxis. Aber auch der Normalbürger kann sich angewöhnen, Signale bewusst wahrzunehmen und nicht nur als unerwünschte Veränderung bei sich oder anderen zu kritisieren oder zu ignorieren.

Wenn man frühmorgens sein Aussehen im Spiegel kontrolliert, trifft es an manchen Tagen zu, dass man sich nicht gefällt. Die wenigsten Menschen denken dann nach, was sie