So, jetzt bin ich schon zwei Tage»Graf«. Wahnsinn. Ich hätte nicht gedacht, dass das so einfach ist. Und ganz legal. Doch nichts hat sich an meinem Leben geändert. Bis jetzt.
Ich residiere nicht in einem Schloss, kein blasierter Diener reicht mir die gebügelte Tageszeitung und gießt mit weißen Handschuhen aus sterlingsilbernem Kännchen feinsten englischen Tee ein. Auch ist keine vierspännige Kutsche vorgefahren.
Schade. Alles beim Alten.
Ich sitze immer noch in meiner kleinen Berliner Zwei-Zimmer-Altbauwohnung, und draußen auf der regennassen Straße klappert die Stadtreinigung mit den Mülltonnen im Rhythmus eines Avantgarde-Konzerts des Goethe-Instituts.
Außerdem habe ich meinen Freunden gegenüber ein schlechtes Gewissen. Jetzt ist er total durchgedreht, werden die denken. Vielleicht raten sie mir, einen Psychologen aufzusuchen oder eine Selbsthilfegruppe schizophrener Pseudoadliger?
Es klingelt an der Wohnungstür. Ein schwer atmender Paketbote bringt meine selbst gestalteten Visitenkarten. Meine Stimmung steigt wieder etwas. Aus der hastig aufgerissenen Schachtel kommen die Karten zum Vorschein:»Lo Graf von Blickensdorf« steht da in vornehmer Schreibschrift. Dazu das selbst gezeichnete Wappen. Hm, sieht zwar ein bisschen aus wie von einem Weinvertreter, der billige Tropfen in weinunkundigen Gegenden verkaufen muss. Aber egal, der Name liest sich gut.
Eine Freundin schaut kurz vorbei und bringt mir ein paar ausgeliehene DVDs zurück. Ihr zeige ich als Erste meine neuen Visitenkarten.
»Na endlich outest du dich«, sagt sie gelassen,»ich wusste doch schon immer, dass du was Besonderes bist…«
Ich bin perplex und erstauntüber ihre Reaktion. Ja, okay, ich habe mal adlige Vorfahren gehabt. Hugenotten, die nach Polen geflüchtet waren. Das ist aber ewig lange her.
»Du hast schon immer so etwas Aristokratisches gehabt«, ergänzt sie.
Jetzt fühle ich mich geschmeichelt und ermutigt, anderen von meinem neuen»Adelsstand« zu erzählen.
Alle meine Freunde, denen ich nach und nach eröffne, dass ich mich ab jetzt»Graf von Blickensdorf« nenne, nehmen es durchweg positiv auf. Niemand macht hinter meinem Rücken das Balla-Balla-Zeichen, ganz im Gegenteil: Jeder fühlt sich genötigt, irgendetwas Lustiges darüber zu sagen.
»Haben Herr Graf wohl geruht?« zum Beispiel. Oder ein Freund adressiert einen Brief»An den Graf von Blickensdorf« mit dem Absender:»Fürst Pückler«. Har-har. Und alle wollen meine Visitenkarte haben.»Zum Angeben«, sagen sie.
Ein paar Tage später gehe ich in eine Filiale einer großen Parfümerie-Kette in der Wilmersdorfer Straße, um dort Rasierschaum eines bekannten japanischen Modedesigners zu erwerben. Ein vermögender Freund, der es sich leisten könnte, hält mich zwar für verrückt, dass ich einundzwanzig Euro dafür ausgebe. Aber weil ich die gesamte Herrenserie benutze, will ich auch den passenden Rasierschaum haben. Als frischgebackener Graf erst recht. Das hat Stil.
Ich finde ihn nicht im Regal.Überall laufen zwar viele emsige, maskenhaft geschminkte Verkäuferinnen in fliederfarbenen Kittelschürzen herum. Aber ich scheine Luft für sie zu sein.
Einige bedienen mittelalte Frauen, die zu Hause wahrscheinlich in viel zu weiten Pullovern im Schneidersitz Tee schlürfen, um dann nach einer Pause ein lang gezogenes»Ahhhh…« auszustoßen, und zeigen ihnen Tiegel mitüberteuerter Antifaltencreme.
Andere Verkäuferinnen wiederum räumen Regale ein, ohne nach rechts oder links zu gucken. Ihre Körpersprache signalisiert: Sprich mich nicht an!
Auf jemanden wie mich scheint niemand von den Kittelschürzen programmiert zu sein. Ich falle wohl durch das Kundenraster. Nach jedem»Entschuldigung,äh…« von mir scheinen die Damen es noch eiliger zu haben, sich von mir zu entfernen, als wären wir Magnete mit unterschiedlichen Polen.
Keine Einzige nimmt Notiz von mir. Zugegeben, ich trage meine ungebügelten schwarzen Künstlerklamotten und außerdem bin ich nicht rasiert. Doch deshalb bin ich ja hier. Und trotzdem– wie ein Penner sehe ich mit meinen Prada-Schuhen aus dem Sonderangebot und meiner Boss-Jacke von eBay eigentlich nicht aus.
Ich gebe zu, dass ich von Natur aus ein etwas vornehm zurückhaltender Mensch bin, weit entfernt von einem Alpha-Männchen. Trotzdem werde ich jetzt etwas sauer. Wenn es sein muss, kann ich mich auch durchsetzen.
Also werde ich etwas energischer. Ich schreite nun herum wie ein Generalfeldmarschall, der auf der Suche nach einer Schwachstelle in den feindlichen Linien ist, um dann einen Durchbruch zu wagen. Da! Jetzt kommt eine. Sie ist zwar nur etwas größer als die kleinwüchsige Pathologin»Alberich« aus den Münsteraner Tatorten, aber ich muss sie ja nicht gleich heiraten.
»Entschuldigung?«
»Ja…?«, antwortet sie mit einem Gesicht, als hätte ich sie gefragt, ob sie Lust auf einen Quickie im Lager hat.
»Ich suche Rasierschaum von Issey Miyake. Führen Sie den?«
»Ick kann die Tür zumachen und hier Wasser rinloofen lassen, dann könn’ Se hier och schwimmen.«
Ich lächle etwas gequält und wiederhole meinen Wunsch.
Mit ausdruckslosen Augen sieht sie mich an:»Ham wa nich!«
Ich setze eine hilflose Miene auf.»Wirklich nicht? Ich habe ihn hier aber schon mal gekauft.«
»Wann war’n det? 1956?« Flink wie eine Antilope will sie mir wieder entwischen. Ich halte sie in letzter Sekunde noch am Zipfel ihrer Kittelschürze fest.
»Schauen Sie doch bitte einmal nach. Im Lager vielleicht? Bitte!« Ich blicke sie flehend an.
»Den ham wa abba nich. Det weeß ick.« Unter ihrem Make-up-Gebirge kann man erkennen, dass sie mich missmutig beäugt.
Ich seh sie traurig an. Das Standgebläse scheint jetzt etwas Mitleid zu bekommen und ihre Stimme wird weicher.»Na jut, ick schau mal im Computer nach«, brummelt sie gnädig.
Erleichtert gehe ich mit ihr zur Kasse. Nach einer Weile hat sie etwas gefunden.»Hm, in der Filiale Schönhauser Allee gibt’s den Rasierschaum noch. Der Letzte. Wird nämlich eigentlich nicht mehr hergestellt.«
Erleichtert frage ich sie, wie ich an den Rasierschaum herankomme.»Na abholen. Oder mein’ Se, der hat Flügel und fliegt direkt zu Ihnen in Ihr Etablissemang?«
»Die Schönhauser Allee ist weit«, stelle ich fest. Ich habe einfach keine Lust dorthin mit dem Fahrrad zu fahren. Wenig Radwege und außerdem im Osten gelegen, wohin man sich als Charlottenburger sowieso nuräußerst ungern begibt.
»Naja…«, erwidert sie wohlwollend,»ausnahmsweise bestell ick es Ihnen.« Ich bin dankbar.
Sie holt einen Block mit Lieferscheinen hervor und fragt in einem Ton wie ein Kaufhausdetektiv den Ladendieb:»Name? Telefonnummer?«, während sie irgendetwas hinten im Geschäft gelangweilt beobachtet.
»Blickensdorf«, sage ich. Sie beginnt fahrig zu schreiben, aber es misslingt ihr.
»Häh? Wie schreibt sich’n das?« Sie kritzelt das Geschriebene zu und will es erneut versuchen.
»B-l-i-c-k…«, buchstabiere ich.
»Mit P?«
»Nein mit B wie Berta.«
Sie flucht. Sie hat sich schon wieder verschrieben. Sie zerreißt den Zettel, zerknüllt ihn, pfeffert ihn wütend in den Papierkorb und nimmt einen neuen.
Da fallen mir meine neuen Visitenkarten ein.»Warten Si