: Dirk von Petersdorff
: Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland Von 1945 bis zur Gegenwart
: Verlag C.H.Beck
: 9783406622328
: Beck'sche Reihe
: 1
: CHF 9.00
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: Literatur: Allgemeines, Nachschlagewerke
: German
: 128
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Literatur der Bundesrepublik hat sich intensiv für die sie umgebende Gesellschaft interessiert. Das war nach der Katastrophe des Nationalsozialismus notwendig, führte in den Sechzigerjahren zu einer Politisierung, in den 1970ern zur Beobachtung von privaten Lebensformen. Auch dort, wo sich in der jüngeren Vergangenheit Themen und Blicke weiten, erzählt die Literatur vom Denken und Fühlen in der nun heterogener werdenden Gesellschaft. Die vorliegende kurze Literaturgeschichte der Bundesrepublik stellt Romane, Theaterstücke und Gedichte vor, um zu fragen, wie sie auf Herausforderungen und Probleme der Bundesrepublik reagieren: auf das Verhältnis zur nationalsozialistischen Vorgeschichte, auf die Durchsetzung einer offenen Gesellschaft, auf das Verblassen der Utopien und auf die Pluralisierung der Denkweisen und Lebensstile. Da die Literatur ihre Antworten zu einem großen Teil über die Form gibt, wird das Fortwirken avantgardistischer Errungenschaften genauso betrachtet wie das grundsätzliche Festhalten am Realismus, wird erläutert, wie die ?Postmoderne? eine Öffnung des ästhetischen Feldes erbrachte, um schließlich auf das nach-experimentelle Erzählen der Gegenwart einzugehen. Weiterhin kommen Essays und Debatten sowie populäre Musik und Filme in den Blick, die die Bundesrepublik manchmal anders beleuchten als die Literatur.

Dirk von Petersdorff ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Jena.

2. Das politische Jahrzehnt
Von der «Blechtrommel» bis zum «Kursbuch»


«Dieser Autor greift nichts an, beweist nichts, demonstriert nichts, er hat keine andere Absicht, als seine Geschichte mit der größten Genauigkeit zu erzählen»: Mit diesen Worten stellte Hans Magnus Enzensberger 1959 in einer RezensionGünter Grass (*1927) und dessen Roman «Die Blechtrommel» vor. In den folgenden Jahrzehnten ist Grass zum wichtigsten Repräsentanten der deutschen Literatur geworden. Immer wieder hat er sich in gesellschaftliche Debatten eingeschaltet, hat die Nähe zur Politik gesucht und Stellungnahmen verfasst, die mit großer Wahrheitsgewissheit formuliert waren. 2006 schließlich wurde er selbst zum Gegenstand einer heftigen Debatte, in der es um seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS in der letzten Phase des Zweiten Weltkriegs ging. Über solche Auseinandersetzungen hat man fast vergessen, welche ästhetische Vitalität am Anfang seines Werkes stand. «Die Blechtrommel» enthält frappierende, sinnlich starke Bilder, die den Leser nicht mehr loslassen. Da sind die weiten Röcke der Großmutter des Ich-Erzählers, unter die man sich flüchten kann; Oskar lässt Brausepulver im Bauchnabel seiner Geliebten aufschäumen; ein Pferdekopf wird aus dem Meer gezogen, in dem Aale sich drehen und winden. «Da ist kein Detail, auf das es dem Erzähler nicht ankäme», stellte Enzensberger in seinem großen Lobgesang fest.

Grass erlebte die Kindheit und Jugend in Danzig, das seit dem Ersten Weltkrieg dem Völkerbund unterstand. Hier trafen verschiedene Kulturen aufeinander, Deutsche und Polen, Juden und Kaschuben. 1939 wurde die Stadt zum Ausgangspunkt des Zweiten Weltkriegs. Die deutsche Tradition Danzigs, in der Grass groß w