: Uwe Timm
: Freitisch Novelle
: Verlag Kiepenheuer& Witsch GmbH
: 9783462307627
: 1
: CHF 9.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 144
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Sind wir die geworden, die wir sein wollten?»Damit hatte er nicht rechnen können, ausgerechnet hier, am Mare Balticum, von seinem Vorleben eingeholt zu werden.« Uwe Timm erzählt vom späten Wiedersehen zweier Männer, die in den frühen Sechzigern, noch vor dem großen Aufbruch, als Studenten in München ihren Weg suchten.Am Freitisch saßen sie mittags beieinander, in der Kantine einer spendablen Versicherung, und ihre Gespräche kreisten um Gott und die Welt und einen gemeinsamen Bezugspunkt: Arno Schmidt. Als sie sich in Anklam wiedertreffen, prallen zwei Lebensentwürfe aufeinander. Der Erzähler hat hier als Lehrer gearbeitet, Deutsch und Geschichte, und führt seit seiner Pensionierung ein Antiquariat. Der andere, Euler, damals Mathematiker mit literarischen Ambitionen, kommt als Investor und sondiert das Terrain, um eine Mülldeponie zu bauen.Beide helfen sich und der Erinnerung auf die Sprünge, geben Anekdoten zum Besten, zitieren ihre Lektüren und landen immer wieder bei dem Dritten im Bunde: Falkner, der damals schrieb, ohne jemals einen Text vorzuzeigen, und mittlerweile ein bekannter Schriftsteller ist. Und bei jener merkwürdigen Reise, die sie in die Heide, zu Arno Schmidts Grundstück führte.Wie man wurde, was man ist, und was man vielleicht hätte werden können - davon handelt Uwe Timms geistreiche, gewitzte, glänzend geschriebene Novelle, die voller Anspielungen steckt und der existenziellen Frage nachgeht: Was lässt sich umsetzen von den Wünschen und Hoffnungen, mit denen man angetreten ist?  

Uwe Timm, geboren 1940 in Hamburg, lebt in München und Berlin. Sein Werk erscheint seit 1984 bei Kiepenheuer& Witsch in Köln, u.?a.: »Heißer Sommer« (1974), »Morenga« (1978), »Der Schlangenbaum« (1986), »Kopfjäger« (1991), »Die Entdeckung der Currywurst« (1993), »Rot« (2001), »Am Beispiel meines Bruders« (2003), »Der Freund und der Fremde« (2005), »Halbschatten« (2008), »Vogelweide« (2013), »Ikarien« (2017), »Der Verrückte in den Dünen« (2020).

 

 

 

 

 

Vor dem Rathaus hatte ich auf ihn gewartet.

Entschuldigung, sagte ich, wir kennen uns. Er sah mich an, suchte in meinem Gesicht und sagte dann: Hm.

Ist schon ’ne ganze Weile her, die Zeit, als Noah bei der Marine war.

Rührend ratlos stand er da, und man sah, innen lief der Gedächtnisspeicher auf Hochtouren, sortierte Gesichter und Zeiten. Nochmals sagte er: Hm, aber diesmal länger auf dem M ausruhend. Nein, weiß nicht. Helfen Sie mir.

Serves him right.

Die Stirnfalte vertiefte sich.

Wissen Sie, woher das Wort Mondamin stammt?

Das Suchen verschwand aus seinem Gesicht, wich einem Staunen, dann kam ein unwilliges Was-denn? Vermutlich dachte er, einer der Stadtalkoholiker wolle ein Bier schnorren.

Die Rentner auf den Parkbänken beobachteten uns. Am Fenster oben im Rathaus erschienen Gesichter – auch das des Dezernenten für Wirtschaft. Er hatte ein Fernglas in der Hand. Hielt es jetzt ganz ungeniert vor die Augen und auf uns gerichtet. Wollte wohl sehen, ob ihm da einer aus der Nachbarstadt den dicken Fisch wegzufangen versuchte.

Es war in unserer kleinen Stadt mit dem Epitheton ornans »sterbend« schnell durchgesickert, dass ein Investor kommt. Und ich hatte auf ihn gewartet, hier vor dem Rathaus, errichtet in den Fünfzigerjahren aus entmörtelten Trümmerziegeln. Realsozialistische Neoklassik. Die Stadt war kurz vor Kriegsende erst von den Amerikanern und dann, nachdem die Rote Armee sie erobert hatte, noch einmal von der Deutschen Luftwaffe bombardiert worden. Die Einwohner sagen mit grimmem Ostseehumor: Dat heft se all platt mokt. Aber damit meinen sie dann doch nur die Amis, die Bomben der Deutschen Luftwaffe haben sie vergessen.

Das Kennerauge sieht sofort, einer aus dem Westen mit seiner schwarzen, knapp geschnittenen Windjacke aus irgendeinem atmungsaktiven Technostoff und einem leuchtend roten Reißverschlusszipp, dem einzigen Farbfleck, denn auch die weich fallende Hose war schwarz. Und das Saab-Cabrio, in einem dezenten Mittelgrau, hatte er rechts am Markt geparkt und das Verdeck offen gelassen.

Auch hatte sich schnell herumgesprochen, wann er kommt. So was bleibt hier nicht verborgen. Unser Briefträger meldet uns schon am Gartenzaun die Herkunftsländer der Briefe. Argentinien, Portugal, Norwegen – und, mit starkem Tremolo: Sönsterud. Die Eltern Ihrer Frau haben geschrieben, ruft er mir von der Gartentür aus zu.

Und jetzt jemand aus Berlin, der Investitionen versprach, und sei es nur für eine Mülldeponie. Auch die bringt Arbeitsplätze, hoffte man. Übrigens nicht irgendein normaler Müll, nein, ein ganz besonderer Müll, hochkontaminiert, erzählte uns die Eierfrau.

Den konnte man inzwischen nicht mal mehr den Afrikanern billig andrehen.

Gut sah er aus, graublondes, kurzstruppiges Haar, wettergebräunt, nicht die gelbliche Solarbräune. Es hieß, er habe im Haff ein Segelboot liegen, darum sei sein Blick auf die vergessene Stadt gefallen. Auch auf der Straße, zufällig, hätte ich ihn wiedererkannt, er aber, wie sich zeigte, nicht mich, der graue Bart, das kurze und, man muss es so sagen, schüttere Haar, die schlabberigen Kordhosen, das karierte Hemd, die runde Nickelbrille lassen vielleicht an einen Provinzkünstler denken. Oder an einen Penner. Nein, dafür fehlt dann doch das gewisse Odeur.

Ist es wirksam, gegen diebische Elstern in die Kirschbäume Salzheringe zu hängen, fragte ich ihn.

An Stirn und Augen krauste Vorsicht.

Ja, damals hätte ich betonter Vor-Sicht gesagt. Sie erinnern sich nicht?

Sein sehr energisches Nein war schon im Ab- und Umdrehen gesprochen.

Vor gut vierzig Jahren, da haben Sie uns mit den »Kühen in Halbtrauer« traktiert. In München. Am Freitisch. Mit Blick auf den Englischen Garten.

Er blieb mit einem überraschten Ach stehen.

Sie. Oder sollte ich angesichts der Erinnerung, die jetzt sein Gesicht aufhellte, du sagen? Nein, erst mal beim