: Barbara Frischmuth
: Bindungen und andere Erzählungen
: Residenz Verlag
: 9783701743629
: 1
: CHF 9.00
:
: Erzählende Literatur
: German
: 176
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Barbara Frischmuth ist eine Meisterin der stilistischen Vielfalt: Mit viel Einfühlungsvermögennähert sie sich mal realistisch, mal absurd-grotesk den Schwierigkeiten und Mühen des menschlichen Zusammenlebens. Frischmuth erzählt von Abschieden und Anfängen. Sei es in der Geschichte um eine junge Archäologin, die sich mit Liebeskummer zu ihrer Schwester zurückzieht und eine kathartische Erfahrung durchlebt, sei es im vorgeschobenen Streit zwischen der Großmutter und ihrer Enkelin um die Suche nach einer Feile. Mit verspielter Erzählfreude lässt Frischmuth vor allem eines aufblitzen: Die Wirklichkeit ist immer wieder ein Experiment.

Barbara Frischmuth 1941 in Altaussee geboren, studierte Türkisch, Ungarisch und Orientalistik und ist seitdem freie Schriftstellerin. Die mehrfach ausgezeichnete Autorin lebt seit einigen Jahren wieder in Altaussee. Zu ihren größten Erfolgen zählen die Romane 'Die Mystifikationen der Sophie Silber' (1976) oder 'Kai und die Liebe zu den Modellen' (1979). Zuletzt erschienen: 'Die Kuh, der Koch, seine Geiß und ihr Liebhaber' (2010) und 'Woher wir kommen' (2012).

Meine Großmutter und ich


Micky? fragt meine Großmutter, sie ist römischkatholisch.

Ja, sag ich, Micky. Micky ist Micky. Er kommt mich abholen und wir gehen zum See rüber, schwimmen.

So, sagt meine Großmutter. Sie schlägt ein Kreuz, bleibt mit dem Finger wo hängen und reißt sich den Nagel ein. Tss, tss, kommt mir da was zu Ohren und noch gar unter die Augen. Micky, sagst du. Ein Witz, ein Witz, so ein Witz. Hol mir schon endlich die Schere aus dem Nähzeug und such die Feile oder soll ich so bleiben. Die Sache verhält sich so oder so. Du weißt, was du mir schuldig bist. Lauf nicht in die Küche, dort ist keine Feile, es muß sie jemand verlegt haben.

Weil man in diesem Haus nichts, aber auch gar nichts findet. Da steht sie und fuchtelt mit dem Finger in der Luft, als hätte sie sich gebrannt. Die Luft tut ihr gut. Drum zieht es immer bei uns.

Stell dich nicht so an, du wirst doch die Feile finden, wenn ich dir sage, daß sie in der Küche nicht ist.

Da geb ich ihr die Schere in die Hand.

Wie verhext ist alles, steht denn das Haus kopf? Ich kann die Gedanken nicht überall haben, und wenn du mir noch was von diesem Micky erzählst, dann erzähl ich dir was. Sie dreht sich auf dem Absatz herum, ihr Kleid rauscht kurz auf, die Vase, die sie mit dem Ellbogen vom Fenstersims gefegt hat, war aus bemaltem Glas, die Splitter springen vom Fußboden auf den Teppich, sie stellt sich darauf, der Rock bedeckt alles – ich weiß, warum ich lange Röcke trage –, ihr Haar flattert in der Zugluft und draußen biegen sich die Bäume.

Ich bin neugierig, wann du mir die Feile bringst. Wenn es noch lange dauert, werde ich selbst danach sehen. Heil hat deine Mutter dich zur Welt gebracht, vielleicht hast du unterdes Schaden genommen, oder willst du sagen, dieser Micky hätte dich um den Verstand gebracht, den will ich mir ausborgen, da wirst du staunen, was von dem übrigbleibt.

Rück ein S