: Hildegard von Bingen
: Der Weg der Welt. Von Bingen war Benediktinerin, Dichterin und gilt als erste Vertreterin der deutschen Mystik des Mittelalters - Ihre Werke befassen sich mit Religion, Medizin, Musik, Ethik und Kosmologie
: e-artnow
: 9788074841750
: 2
: CHF 1.80
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: Sonstiges
: German
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Dieses eBook: 'Der Weg der Welt. Visionen der Hildegard von Bingen' ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Hildegard von Bingen (1098 - 1179) war Benediktinerin, Dichterin und eine bedeutende Universalgelehrte ihrer Zeit. In der römisch-katholischen Kirche wird sie als Heilige und Kirchenlehrerin verehrt. Hildegard von Bingen gilt als erste Vertreterin der deutschen Mystik des Mittelalters. Ihre Werke befassen sich mit Religion, Medizin, Musik, Ethik und Kosmologie. Sie war auch Beraterin vieler Persönlichkeiten. Inhalt: 1. Buch Die erste Vision: Von der geistlichen Einsicht. Die zweite Vision: Vom Fall der Engel und Menschen Dritte Vision: Vom Weltall. Die vierte Vision: Von Seele und Leib. Die fünfte Vision: Von der Synagoge. Die sechste Vision: Von den Engelchören. 2. Buch Die erste Vision: Vom Erlöser. Die zweite Vision: Von der Dreifaltigkeit. Die dritte Vision: Von der Taufe. Die vierte Vision: Von der Firmung. Die fünfte Vision: Von den drei Ständen. Die sechste Vision: Von der Eucharistie und Buße. Die siebte Vision: Vom besiegten Teufel. 3. Buch Die erste Vision: Vom Engelsturz. Die zweite Vision: Von der Gottesstadt. Die dritte Vision: Vom Turm der Vorbereitungszeit. Die vierte Vision: Von der Säule des Gottesworts. Die fünfte Vision: Vom Zorn Gottes. Die sechste Vision: Vom alten Bund. Die siebte Vision: Von der Dreifaltigkeit. Die achte Vision: Die Säule des Erlösers. Die neunte Vision: Der Turm der Kirche. Die zehnte Vision: Die erste von der Zukunft der Kirche. Die elfte Vision: Die zweite von der Zukunft der Kirche. Die zwölfte Vision: Vom Jüngsten Gericht. Die dreizehnte Vision: Von den Chören der Seligen.

Hildegard von Bingen


Der Weg der Welt


Zur Einführung


 

Deutschland hat eine dantegleiche Frau und kennt ihr Werk nicht, das Werk der größten Dichterin und Philosophin des deutschen Mittelalters, einer Prophetin und einer Heiligen, der alle Größen ihrer Zeit, Bernhard und Barbarossa, die Kirchenfürsten und weltlichen Fürsten in Ehrfurcht gehuldigt haben, und die so hochüber gemeinmenschliches Maß hinausragt, daß eben diesÜbermenschliche bedrückt und scheu macht, an das Geheimnis dieser Persönlichkeit zu rühren und zu fragen, was ihr Werk zu bedeuten hat. Die Heiligengestalt ist bekannt und in ein paar guten und weniger guten Biographien gezeichnet, aber ihr Werk ist geschützt durch den Feuerkreis des symbolischen Geistes, und seine heroische Höhe ist nur zugänglich durch Geist, durch Denken in mittelalterlichem Geiste. Dabei ist es wiederum nicht die deutsche Mystik, jene Mystik des 14. Jahrhunderts, die dank den Romantikern und Germanisten leidlich erforscht, teilweiseübersetzt und in ihren großen Namen wenigstens als Gemeingut der Gebildeten gelten kann und auch nicht die Scholastik des 13. Jahrhunderts, die langsam durch einen großen Kreis deutscher und ausländischer Gelehrter wieder zugänglich gemacht wird, sondern es ist die Weltanschauung des 12. Jahrhunderts, die am besten deutscher Symbolismus genannt werden kann und allein hinzuführen vermag zum Werk der prophetissa teutonica.

Dieser Geist des 12. Jahrhunderts ist uns so schwer zugänglich, weil unsere eigene Frömmigkeit allzusehr vom religiösen Einzelmenschen ausgeht, von Gebet und Andacht, Erbauung und Mystik oder Gotteserkenntnis, und weil sie die religiöse Welt kaum mehr als Gotteswerk, als absolut eigenständige Wirklichkeit, als Heilsvorgang und Heilsgeschichte, Christengemeinschaft und Gottesreich sieht. Gott und die Einzelseele, das ist unsere intime, private Religiosität, Gott und alle Geister vom Engelsturz bis zum Jüngsten Gericht, das ist die monumentale Frömmigkeit des kosmischen, weltweiten und ewigkeitstrunkenen 12. Jahrhunderts.

Es war insbesondere ein Kreis von deutschen Denkern, der im 12. Jahrhundert eine mächtige Geistesbewegung getragen hat, die ihreräußeren literarischen Breite nach sicher die Mystik des 14. Jahrhundertsübertrifft, und die sich in den großen exegetischen Weltdichtungen eines Rupert von Deutz, Honorius, Hugo von St. Victor, Anselm von Havelberg, Otto von Freising, Gerhoh und Anselm von Reichersberg ausgesprochen hat. Nun, da langsam symbolisches und mythisches Denken auch von uns wieder innerlich errungen wird, ist es vielleicht an der Zeit, das Hauptwerk der Seherin und Dichterin dieses Kreises, der heiligen Hildegard von Bingen (1098 bis 1179) zu ihrem 750jährigen Jubiläum zugänglich zu machen.

In unserem Weltbild steht alles für sich allein, und so ist alles nicht weiter bedeutungsvoll. Symbolismus aber heißt, daß schlechthin alles bedeutungsvoll ist, hinweisend auf anderes, weil alles in einer universalen Ordnung steht, alles gegenseitig aufeinander bezogen ist und in dieser Beziehung aller Sphären aufeinander einen ewigen, großen, buchstäblich welterschütternden Sinn besitzt. Alles ist Offenbarung einer unendlichen Willensmacht und Weisheit, die alle Zeiten in Ewigkeit bestimmt und ihr Werk und ihren Plan mit den Menschen in einem geschlossenen Weltepos der Entfaltung und Vollendung des Gottesreiches vollbringt. Der Kosmos einer unendlichen Zeitenordnung ist damit aufgetan, sie ist die wahre Weltordnung, allesÄußere ist nur Bild und Gleichnis, Symbol! Alles gute Endliche ist heilig, alles Sichtbare ist Zeichen, jede Form ist Gleichnis, weil im Symbolismus anders als bei der Mystik nichts in der gefühlten oder geahnten Unendlichkeit einer Einigung mit Gott versinken soll, sondern in aller Form die Hand des formenden Meisters und das Geheimnis der dreifaltigen Ordnung in Gott aufgespürt werden soll. Das Weltbild wird visionär, weil die Symbolschau durch alle Weltdinge und Weltereignisse hindurchblickt und von ihrer Bildform auf die makrokosmische und transkosmische Ordnung des Gotteswerkes schließt.

Was bisher vom Symbolismus ausgesagt wurde, ist den deutschen Symbolikern des 12. Jahrhunderts gemeinsam. Hildegard, die Frau, hat es für sich allein, daß ihre Symbolschau sich zu echten Visionen steigert. Das erhebt sie nochüber Dante, der seine Visionen nur dichtet. Ihr Enthusiasmus ist in einem höchsten Sinne Poesie, Extase und Inspiratio,überwache Bilderschau und gleichsam von außen her gehörtes Wort, dessen Fülle sie stammelnd undübersprudelnd aus sich herauswirft.

Der poetische Geist ihres Werks ist zudem der eigentliche Sinn ihrer Spiritualität. Es entspricht ihrer betonten und selbstbewußten Fraulichkeit, daß sie gerade als Frau Besonderes zu sagen hat. Trotzdem gibt das individuell persönliche Gemütsleben Farbe und Klang für eine an sich durchaus objektive liturgische und kosmische Frömmigkeit ab: die Harmonie zwischen Gott und der Welt als Seelenharmonie, das ist die metaphysische Formel für ihr Werk.

Sie ist im herrlichsten Bild zu Anfang ihres HauptwerksScivias,»Wisse die Wege« oder objektiv:»Der Weg der Welt« gestaltet: die unerträglich leuchtende Majestät Gottes thront in Menschengestalt auf dem eisernen Berg der Ewigkeit und Kirche, aber der sanfte Schatten ihrer Flügel geht als die milde Erlösung von ihr aus. Vor ihm steht die Seele als Furcht Gottes und als Armut im Geiste und wird so gewaltig erleuchtet mit dem goldenen Lichtstrom der göttlichen Heilskraft und Erschließung der Siegel der Geheimnisse, daß ihr eigenes Antlitz verschwindet.

Das System der Visionen– man muß tatsächlich von einem solchen reden, so paradox es klingt,– ist dasselbe w