Kapitel 2
»Beth,mach schon«, flüsterte Pencil, »wir müssenlos.«
Beth betrachtete prüfend das Bild, das sie auf den Asphalt des Schulhofs gesprüht hatte. Sie drehte ihre Spraydose ein paarmal in ihrer Hand.
»Beth …«
»Es ist noch nicht fertig, Pen«, sagte Beth. Im trüben Widerschein der Laternen ringsum konnte sie nur den besorgten Finger am Kopftuch des pakistanischen Mädchens ausmachen. »Sei nicht so ’n Schisser.«
Pencil marschierte gereizt auf und ab. »Schisser? Wie alt sind wir, zehn? Hast du an deinen Farben geschnüffelt? Ich mach keine Witze, B. Wenn irgendwer kommt, schmeißen die unsraus.«
Beth schüttelte ihre Spraydose. »Pen«, sagte sie, »es ist vier Uhr morgens. Die Schule ist dicht. Sogar die Ratten haben’s aufgegeben und sind nach Hause gegangen. Wir haben wegen der Kameras unsre Gesichter verdeckt, als wir über die Mauer sind, obwohl’s hier Scheiße noch mal sowieso kein Licht gibt. Es ist keine Sau da und man kann uns nicht identifizieren, also worüber genau machst du dir Sorgen?« Beth hielt ihre Stimme ruhig, doch die Brust war ihr vor Aufregung wie zugeschnürt. Sie ließ die Taschenlampe über das Bild zu ihren Füßen wandern. Das Porträt von Dr. Julian Salt, dem Mathelehrer der Frostfield High, war ihr ziemlich gut gelungen, besser, als sie erwartet hatte, vor allem für eine hektische Arbeit im Dunkeln. Sie hatte seine gerunzelten Augenbrauen perfekt getroffen, ebenso wie die hohlen Wangen und die undurchsichtigen, bedrohlich wirkenden Brillengläser. Das Unkraut, das sich durch den Asphalt kämpfte, verstärkte noch den Effekt, denn es sah aus wie wild wucherndes Nasenhaar.
Der Fairness halber: Beth hatte ihm obendrein auch eine brandige, sich abschälende Haut verpasst sowie eine zwölf Meter lange gespaltene Zunge, sich ganz offensichtlich alsoein paar künstlerische Freiheiten herausgenommen, aber trotzdem …
Das bist eindeutig du, du Scheißtyp.
»Beth,sieh mal!«, zischte Pen, sodass Beth aufschreckte.
»Was?«
»Da oben–« Pen streckte den Arm aus. »Ein Licht …«
Beth hob den Blick. Eines der Fenster im Haus gegenüber der Schule schimmerte in einem sanften, alarmierenden Orange. Genervt atmete sie aus. »Ist wahrscheinlich bloß irgend’ne alte Schachtel, die mitten in der Nacht mal aufs Klo muss.«
»Von da oben aus kann man unssehen«, beharrte Pen.
»Wieso sollte das irgendwen kümmern?«, murmelte Beth. Sie wandte sich wieder dem Bild zu. Die komplette zwölfte Jahrgangsstufe an der Frostfield wusste, dass sie und Salt Feinde waren, aber das war nur die übliche Lehrer-Schüler-Aggro und beileibe nicht der Grund, warum sie hier war. Was nach Vergeltung verlangte, war die Art, wie Salt Pen behandelte.
Sie wusste nicht, wieso, doch er schien eine gewisse boshafte Freude daran zu haben, ihre beste Freundin zu demütigen. Salt hatte Pen vielleicht grade mal halb so oft zum Nachsitzen verdonnert wie Beth, aber Pen war jedes Mal den Tränen nahe gewesen, wenn sie wieder rauskam. Und in der Mathestunde am Montag, als Pen darum gebeten hatte, auf die Toilette gehen zu dürfen, hatte Salt ihr eine glatte Abfuhr erteilt. Er hatte einfach weiter über quadratische Gleichungen geredet, dabei aber unverwandt Pen angestarrt. Auf seinem Gesicht hatte dieses Lächeln gelegen, als wollte er sieherausfordern, sich ihm zu widersetzen– alswüsste er, dass sie’s nicht fertigbrachte. Pen hatte ihre Hand oben behalten, aber nach einer Weile hatte ihr Arm angefangen zu zittern. Als sie es sich schließlich so lange verkniffen hatte, dass sie vor Schmerzen zusammenklappte, zerrte Beth ihren verkrümmten Leib vom Stuhl und hievte sie aus dem Klassenzimmer. Kaum dass sie draußen den Flur entlanghetzten, hörten sie, wie das Gelächter losbrach.
Später, als sie hinter dem Naturwissenschaftstrakt gestanden hatten, hatte Beth gefragt: »Wieso bist du nicht einfach gegangen? Er hätte dich nicht aufhalten können, also warum bist du nicht einfach raus?«
Auf Pens Gesicht hatte dieses eingefrorene Clownslächeln gelegen, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie Panik schob. »Ich dachte bloß …« Sie verschluckte die Worte halb und blickte starr auf ihre Schuhe. »Ich dachte bloß, mit jeder Sekunde, die verging, wenn ich’s jetzt nur nocheine weitere, eine weitere aushalten könnte, wär’s okay. Und ich müsste mich nicht … du weißt schon.«
Mit ihm anlegen. Beth hatte den Satz für sie beendet.
Sie hatte ihre Freundin fest in die Arme genommen. Beth wusste, dass Pen Kraft besaß, sie erkannte sie jeden Tag, doch diese Kraft war eine, die widerstand, ohne sich jemals zu widersetzen. Pen konnte die Schläge wegstecken, doch sie schlug nie zurück.
In diesem Moment hatte Beth beschlossen, dass sie etwas unternehmen musste. Und– das hier waretwas.
Sie richtete den Strahl ihrer Taschenlampe wieder auf das Bild, und die Anspannung in ihrer Brust wich einer warmen Zufriedenheit.Ein Albtraum in Neon, dachte sie.Hässlich passt zu dir, Doc.
»Beth Bradley«, flüsterte Pen. Sie klang noch immer verängstigt, aber diesmal auch ein wenig ehrfürchtig. »Du bist ’ne echte Eins-a-Spinnerin.«
»Ja, ich weiß«, sagte Beth, und ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. »Aber ich binwirklich gut–«
Ein schrilles Heulen gellte durch die Nacht: Polizeisirenen, die schnell näher kamen. Instinktiv kauerte Beth sich auf den Boden und riss sich die Kapuze über ihr kurzes, verwuscheltes Haar.
»VerdammteScheiße«, wisperte Pen panisch, »ich hab dochgesagt, dass uns wer gesehen hat! Die müssen die Sache gemeldet haben– die denken bestimmt, wir wollen hier irgendwas klauen.«
»Ach, und was?«, murrte Beth zurück. »Das Geheimrezept für die Mäusekackepastete aus der Kantine? Ist ja nicht so, als gäb’s in dieser Schule irgendwas, das sich zu stehlen lohnt.«
Pen zupfte Beth am Ärmel. »Wie auch immer– wir müssen hier weg.«
Beth riss ihren Ärmel los, hockte sich auf die Knie und verpasste der Kieferkontur hektisch noch einen Extraschatten. Das Ganze musste exakt stimmen.
»B, wir sollten hier echt abhauen!« Pen hüpfte vor lauter Aufregung von einem Bein aufs andere.
»Dann hau ab«, zischte Beth.
»Ich geh nicht ohne dich.« Pen klang beleidigt.
Beth sah nicht einmal auf. »Pen, wenn du dich jetzt nicht vom Acker machst, und damit meine ichjetzt sofort, dann stecke ich Leon Butler, dass du’s warst, die ihm dieses Gedicht auf den Schreibtisch getippext hat.«
Einen Augenblick lang herrschte schockiertes Schweigen, dann keuchte Pen: »Miststück.«
»Leon, mein Löwe, ich wär dein ganzer Stolz. Und nicht nur im Innern …«, rezitierte Beth in gedämpftem Singsang. Sie konnte nicht...